# taz.de -- Essay zu Corona-Pandemie: Die magische Verfallszahl | |
> Kunstpädagogin Henriette Hufgard betrachtet Zeit aus einer feministischen | |
> Perspektive. Die Pandemie raube vor allem Frauen Lebenszeit. | |
Bild: Zur Wirtschaftsrettung wird Zeit von Frauen umverteilt. Momos graue Herre… | |
Zeit ist Luxus, Zeit ist Geld, Zeit vergeht. Das weiß der Volksmund. Aber | |
seit wann ist Zeit ein feministisches Problem? Vielleicht schon immer, | |
aber die Covid-19-Pandemie eröffnet einen neuen Blick auf das Problem mit | |
der (Lebens-)Zeit und die Frage, wem sie mit welcher Selbstverständlichkeit | |
geraubt wird. | |
Das erläutert Henriette Hufgard in ihrem Essay „Über das wundersame | |
Verschwinden der Zeit“, der in der Edition „Wieder denken. Neue Fragen, | |
andere Antworten, Perspektiven für die Zeit nach der Pandemie“ erschienen | |
ist. Bei Hufgard ist die Zeit relativ, nicht im physikalischen Sinne. Die | |
Pandemiezeit läuft für Frauen anders. | |
Hufgard nähert sich der scheinbar unpolitisch-metaphysischen Frage nach der | |
Zeit und ihrer Verwendung, ausgehend von einer Beobachtung: Ob man die | |
Pandemie als geschenkte oder gestohlene Zeit betrachtet, hängt wesentlich | |
von zwei Faktoren ab. Einerseits vom Geld (gesichertes Arbeitsverhältnis, | |
vorhandenes Kapital, Immobilien etc.) und andererseits vom Geschlecht. | |
Endlich hat man mal Muße, endlich hat man mal Zeit. Das gilt aber nur, wenn | |
man nicht in einem systemrelevanten Beruf arbeitet und/oder Kinder hat oder | |
alleinerziehend ist. | |
## Die „systemrelevanten Frauenberufe“ | |
All diese Unds und Oders betreffen in aller Regel Frauen anders als Männer, | |
weil sie statistisch gesehen häufiger in „systemrelevanten“ Berufen | |
arbeiten, die man früher „Frauenberufe“ nannte. Während aber die Ärztinn… | |
und Erzieherinnen das System am Laufen halten, müssen sie sich fragen, wer | |
eigentlich ihr System, den oikos, vulgo: den Haushalt, am Laufen hält. | |
„Zur Rettung der Wirtschaft wird stillschweigend die Zeit von Frauen | |
umverteilt. Momos graue Herren sind rückfällig geworden.“ Und was ist | |
eigentlich mit den Frauen, die nicht systemrelevant sind, deren Kinder | |
nicht betreut werden, die aber trotz Pandemie gern vorankämen? Die | |
promovieren, deren Doktorväter und -mütter aber wenig Verständnis dafür | |
zeigen, dass nicht nur geschlossene Bibliotheken ein Hindernis sind, | |
sondern auch unbetreute Dreijährige? | |
Sprachlich elegant verwebt Hufgard philosophischen Zeitdiskurs, politische | |
Krisenbetrachtung und stille Wut in einem erhellenden Essay. Frauenleben | |
werden immer schon anders durch Zeit strukturiert, haben immer schon eine | |
andere Existenz in der Zeit, so Hufgard. | |
## Magische Grenze bei 35 Jahren | |
Die magische Grenze fürs Erreichen der wichtigsten Lebensziele einer Frau | |
scheint bei 35 zu liegen – spätestens dann sollte sie Kinder haben, | |
beruflichen Erfolg, einen Ehemann –, und wer das alles hat, der ist doch | |
wirklich krisensicher? 35 ist die magische Verfallszahl, die Halbwertszeit | |
im Frauenleben, danach geht es immer nur bergab, so jedenfalls das | |
gesellschaftliche Bild. | |
Wer insgesamt so wenig Zeit zugestanden bekommt, um alles zu erreichen, für | |
den ist ein Jahr gestohlene Pandemiezeit eine Katastrophe. Die Zeit | |
verpufft wie der Zigarettenqualm der grauen Männer. Dagegen kann man die | |
aufgewandte Zeit fürs Lesen dieses Essays als Gewinn verbuchen. | |
5 May 2021 | |
## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
## TAGS | |
Essay | |
Feminismus | |
Pandemie | |
Zeit | |
Arbeit | |
Frauen | |
systemrelevant | |
Schwerpunkt #metoo | |
Comic | |
Schwerpunkt Femizide | |
Künstlerinnen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Philosophin über weibliche Unterwerfung: „Schwesternschaft ist eine Lösung�… | |
Die Philosophin Manon Garcia über die Mechanismen der Selbstunterwerfung | |
von Frauen. Und eine Erklärung für die vielen weißen Wählerinnen Trumps. | |
Graphic Novel über Ärzte ohne Grenzen: Ein Geist im Gepäck | |
Realer denn je: In Judith Vanistendaels Graphic Novel „Penelopes zwei | |
Leben“ entscheidet sich eine Ärztin dafür, Menschen in Krisengebieten zu | |
retten. | |
Feministisches Manifest aus Chile: In der Wut vereint | |
Die Performance des feministischen Kollektivs LASTESIS ging 2019 viral um | |
die Welt. Nun erscheint ihr Manifest „Verbrennt eure Angst!“ | |
Künstlerinnen am Weltfrauentag: „Aufstehen für mehr Sichtbarkeit“ | |
Am Weltfrauentag besetzen Künstlerinnen in Berlin den Platz vor der | |
Gemäldegalerie. Ein Gespräch mit Mitinitiatorin Rachel Kohn. |