# taz.de -- Sasha Waltz lässt zu Terry Riley tanzen: Wie tanzt man Pandemie? | |
> Ein „C“ für die Note und die Pandemie: Sasha Waltz lässt ihre | |
> Tänzer*innen die musikalischen Figuren von Terry Rileys Klassiker „In | |
> C“ durchlaufen. | |
Bild: Die tänzerischen Figuren sind mal raumgreifender, mal intimer: Sasha Wal… | |
Am Samstagabend im Berliner Radialsystem: [1][Sasha Waltz] hält die | |
Doppelseite einer kompletten Partitur vor eine der im Saal positionierten | |
Kameras. Es wird live gefilmt: der Fernsehsender Arte überträgt auf seinem | |
[2][„Concert“-Webkanal], und auch [3][auf dem Yotube-Kanal von „Sasha | |
Waltz & Guests“] zeigt der rote Punkt „live“ an. Eine ziemlich | |
außergewöhnliche Partitur sei das, so die Choreografin, die den Beginn der | |
Minimal Music markiert habe, im Jahr 1964. | |
Waltz spricht über das Stück „In C“ des amerikanischen Komponisten Terry | |
Riley, benannt nach der darin dominierenden Tonart, dem C-Dur. Jede*r der | |
Musiker*innen könne die 53 aufeinanderfolgenden musikalischen Motive | |
nach Belieben häufig wiederholen. Daraus ergibt sich – und Dutzende von | |
seit der Erstveröffentlichung 1968 erschienenen Einspielungen des Stückes | |
zeigen dies –, dass „In C“, für das von Riley weder eine Anzahl von | |
Mitwirkenden noch eine Auswahl an Instrumenten angegeben wurde, jedes Mal | |
anders klingt: Die Musiker*innen müssen aufeinander hören und darauf | |
reagieren, was die anderen spielen. | |
Das überaus bekannte Stück, das je nach Umsetzung von unterschiedlicher | |
Dauer sein kann, ist somit eine Quasi-Interpretation, die ihre Form dem | |
Jazz entleiht, mit dem Riley sich seinerzeit auseinandergesetzt hat. | |
Waltz erzählt weiter, sie habe in ähnlicher Weise mit den Tänzer*innen | |
arbeiten wollen, die das Stück gleich in einer Premierensituation aufführen | |
würden. Die 53 musikalischen Figuren habe sie in eine choreografische | |
Partitur übersetzt, bei der die Tänzer*innen also in unterschiedlichen | |
Konfigurationen 53 Figuren durchlaufen würden. Sie bewegten sich dabei so | |
miteinander durch den Raum, dass kein Moment dem anderen gleiche. | |
## Die Freiheit im Ensemble | |
Viel Freiheit für das Individuum lasse dieses Stück, dessen | |
Originalpartitur Riley einmal als demokratisch bezeichnet hat, Freiheit für | |
den Einzelnen, aber als Teil eines Ensembles. Dann schlägt Waltz in ihrer | |
Einführung den Bogen, auf den man wartete. Sich in pandemischen Zeiten | |
künstlerisch-perfomativ einer Komposition mit diesem Titel zuzuwenden, | |
bedingt beinahe reflexartig, dass man „In C“ als „In Corona“ mitdenkt. | |
Sie spricht es nicht aus, aber die Ankündigung, dass die Choreografie viel | |
mit den Zeiten zu tun habe, in denen wir lebten, dass es bei ihrer | |
Umsetzung darum ginge, wie man eigene Freiheiten so einschätze, dass man | |
die Gesellschaft dadurch nicht schädige, weckt Erwartungen: Wie tanzt man | |
(in der) Pandemie? Werden die Tänzer*innen symbolisch Mindestabstand | |
halten, ja, sich überhaupt berühren, oder umso vehementer? | |
Der erste Blick auf die Bühne – die Kamera ist auf Augenhöhe positioniert �… | |
zeigt die zehn an diesem Abend Performenden als dunkle Schemen vor rot | |
glühendem Hintergrund. Die als Konserve abgespielte Musik – Waltz und | |
Dramaturg Jochen Sandig haben die aus dem Jahr 2001 stammende Aufnahme der | |
New Yorker „Bang on a Can“-All-Stars ausgesucht, bei der Instrumente „aus | |
der ganzen Welt“ zu hören sind – hat noch nicht begonnen, aber die | |
Tänzer*innen bewegen sich teils schon. Man hört ihre Bewegungen, ihre | |
Schritte. | |
Sie führen die erste Figur aus, eine Art Suche der Position im Raum, wie | |
man es aus dem Alltag der letzten Monate kennt. Als die Musik einsetzt, | |
folgt wie eine Lockerung des rechten Arms, synchron ausgeführt mit einem | |
abrupten Schalten des Kopfs nach rechts. Die farbenfrohe, teils pastell | |
getönte, luftig-leichte Kleidung der Tänzer*innen, die nun zu sehen ist | |
(Kostüm: Jasmin Lepore), und die einsetzenden, sich abwechselnden | |
Lichteffekte auf der Bühne (sparsam), vor allem die meist Farbverläufe | |
zeigende Projektion auf der den Raum dominierenden Hintergrundleinwand | |
(Licht: Olaf Danilsen), geben den Rahmen für eine offene, entspannte, | |
geradezu sommerlich wirkende Raumsituation. | |
Die Figuren, die nun auf der Bühne ausgeführt werden, folgen eine der | |
anderen, während die Musik voranschreitet: mal kreisender, raumgreifender, | |
mal intimer, mal verharrend auf dem Boden, mal hektisch (ist das leichte | |
Abklopfen des Halses mit den Fingern etwa doch eine Coronareferenz?). | |
Die Zuspitzung einer Handlung ist nicht zu sehen, alles bleibt in einer | |
statischen Spannung, auch bleibt es beim Kollektiv: einzelne treten | |
(unterstützt durch Kameraeinstellungen) nur gelegentlich im Blickfeld | |
hervor, gemäß der Musik, bei der hier und da der Klang einzelner | |
Instrumente hervortritt und wieder zurückfällt. Berührungen sind nur selten | |
und selbst bei Umarmungen nur tastend; so sind die Tänzer*innen meist | |
synchron für sich, in gleichzeitig Figuren ausführenden Clustern. | |
Manchmal sieht man durch die Kamera von der Decke, wobei die von hier | |
leicht sichtbare Segmentierung der Bühne wie die Notenlinien einer Partitur | |
erscheinen, die Tänzer*innen wie Noten. Als die Musik nach rund 50 | |
Minuten verstummt und sich die Tänzer*innen nun synchron zur letzten | |
Figur zusammengefunden haben, bevor sie verharren, gibt es | |
situationsbedingt keinen Applaus, dafür im Abspann den Hinweis: „Wir können | |
Ihren Applaus nicht hören – aber Ihre Spende sehen!“ Es ist ein angesichts | |
dieser die Sinne befreienden knappen Stunde berechtigtes Anliegen. | |
9 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Aufbruch-beim-Staatsballett-Berlin/!5644988 | |
[2] http://arte.tv/SashaWaltzInC | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=c_9KItKJjwI | |
## AUTOREN | |
Martin Conrads | |
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