| # taz.de -- Uraufführung von Sasha Waltz in Berlin: Wo der Spielraum eng wird | |
| > Mit den Körpern bewegen sich die Gefühle, die Geschichte tritt ein. Am | |
| > Staatsballett Berlin kam ein neues Stück von Sasha Waltz zur | |
| > Uraufführung. | |
| Bild: Gruppenszene aus „Sym-Phonie“ von Sasha Waltz | |
| Berlin taz | Es gibt einen Moment, der ist wie ein Requiem. Die Musik von | |
| Georg Friedrich Haas, die eben noch druckvolle Wellen in den Raum der | |
| Berliner Staatsoper pumpte, ist verstummt. Die Stille scheint mit Händen | |
| greifbar. Die Bewegungen sind verebbt, die 21 Tänzerinnen und Tänzer der | |
| Compagnie von Sasha Waltz & Guests stehen still in einer Reihe | |
| nebeneinander. Bis auf zwei Männer, die einen nach dem anderen sanft an den | |
| Schultern fassen und zwei Schritte vor die Reihe schieben. | |
| Das ist ein langsamer Prozess, in dem die Unruhe und Kraft, die bis dahin | |
| jeden der Körper angetrieben hat, mehr und mehr zum Stillstand kommt. | |
| Irgendwann ist so die ganze Gruppe nah an die Rampe der Bühne gebracht | |
| worden und wird jetzt von den beiden Männern, die gewissermaßen die Regie | |
| in dieser Menschengruppe übernommen haben, zu Boden gebetet, vorsichtig und | |
| behutsam. | |
| Das ist ein äußerst symbolisches Bild, das sicher nicht nur am Abend der | |
| Uraufführung am Sonntag, wenige Stunden, nachdem Friedensdemonstrationen an | |
| der Staatsoper Unter den Linden vorbeigezogen waren, an den Krieg Russlands | |
| gegen die Ukraine denken lässt und an die vielen darin schon umgekommenen | |
| Menschen. | |
| ## Möglichkeit der Anteilnahme | |
| Für einen Moment ist man vielleicht sogar froh über diese Möglichkeit von | |
| Anteilnahme, von der gedanklichen Verbindung zwischen der Uraufführung | |
| dieses Tanzstücks mit dem politischen Geschehen. Auch wenn man weiß, dass | |
| Sasha Waltz solche berührenden Bilder des Vergehens auch schon früher in | |
| ihren Choreografien aufgerufen hat. | |
| Der Tanz ist eben eine sehr offene Kunstform, seine Rezeption vom | |
| gesellschaftlichen Kontext durchaus abhängig. Das macht zu Zeiten des | |
| Krieges Sasha Waltz' Stück „Sym-Phonie MMXX“ zu einem ebenso aufregenden | |
| wie tröstenden Erlebnis. | |
| [1][Sasha Waltz war für kurze Zeit (2019/2020) zusammen mit Johannes Öhmann | |
| Intendantin des Staatsballetts Berlin], aus der Zeit datiert die | |
| Verabredung zu dieser Choreografie, für die der Komponist Georg Friedrich | |
| Haas einen Kompositionsauftrag erhielt. Die Premiere wurde durch Corona | |
| verschoben; von dem ursprünglichen Plan, dass Tänzer:innen aus dem | |
| Staatsballett mit dem Ensemble von Sasha Waltz & Guests zusammen auftreten, | |
| ist nichts mehr geblieben, nur ihr Ensemble steht auf der Bühne. | |
| „Sym-Phonie MMXX“ ist ein klassisches Stück geworden, klassisch im Hinblick | |
| auf die Bewegungssprache der Choreographin, die hier wieder mit ganz großen | |
| Bildern von Menschheitsgeschichte arbeitet, von Konflikten der Gewalt, mit | |
| großen Gruppen, mit Gesten des Angriffs und der Flucht, mit langen | |
| Bewegungsfriesen, die nicht von ungefähr an Stein und Relief gewordenen | |
| Erzählungen in alten Kulturen erinnern. Und doch sind diese Bilder | |
| ergreifend, durchscheinend für andere Bilder, Bilder der Gegenwart, von | |
| Demonstrationen, von Aufständen, von Befreiungsbewegungen. | |
| ## Immer und überall | |
| Keine Zeit, kein Ort wird konkret benannt, es ist mehr ein allgemein | |
| menschliches Drama, auf das Sasha Waltz mit ihrer Bewegungskunst zielt. Ihr | |
| Umgang mit Konflikten und Leid der Menschen folgt keinem | |
| gesellschaftsanalytischen Ansatz, sondern hat mehr von einer | |
| anthropologischen Beschreibung, die das Bild der Gegenwart mit der | |
| Darstellung in antiken Künsten verbindet. Das hat manchmal auch etwas | |
| Anachronistisches, ist nichtsdestotrotz diesmal aber tatsächlich sehr | |
| bewegend. | |
| Die Bühne ist spartanisch. Die Bühnenbildnerin Pia Maier Schriever arbeitet | |
| nur mit einer beweglichen Wand, aus kleinen Quadraten zusammengesetzt, die | |
| das Licht reflektiert und die Szenerie oft in ein golden schimmerndes Licht | |
| taucht. Die schmalen Silhouetten der Tänzerinnen in bodenlangen Kleidern | |
| davor haben etwas von Jugendstilgemälden. | |
| Im zweiten Teil des Abends, nach dem Einschnitt der Stille, schiebt sich | |
| die Wand einmal von links nach rechts über die Bühne und teilt die | |
| Agierenden in Gruppen davor und dahinter. Am Ende senkt sie sich vom | |
| Schnürboden herab, immer schmaler wird der Raum unter ihr, nach und nach | |
| flüchten die Tänzer:innen aus der Enge. | |
| Ein Einziger hält sich lange, sucht im Liegen und über Schultern und Kniee | |
| rollend nach immer neuen Möglichkeiten, sich doch noch zu artikulieren, | |
| einzelne Glieder vorgereckt in den immer schmaler werdenden Raum über ihn. | |
| Am Ende liegt die Scheibe auf dem Boden, der Raum des Ausdrucks ist | |
| geschlossen und wieder könnte man darin ein Symbol sehen, einen Hinweis auf | |
| Kontrolle und Zensur von Meinung in Russland etwa. | |
| Uraufführungen zeitgenössischer Komponisten sind selten an der Staatsoper | |
| Unten den Linden. Insofern ist dieser Kompositionsauftrag an [2][Georg | |
| Friedrich Haas] durch das Staatsballett auch etwas Besonderes für das Haus. | |
| Vom Orchester der Staatskappelle unter der Leitung von Ilan Volkov im | |
| Orchestergraben gespielt, ist die Musik voller Vibrationen, auf- und | |
| abschwellender Klangwellen, Stimmungen von Alarm und Bedrohung, Sirenen und | |
| Hörner. Mit ihr wird etwas Gefährliches in den Raum geschleudert, dem sich | |
| zu entziehen die Tanzenden keine Chance hätten. Aber sie steigen ja auch | |
| ein auf ihre Emotionalität, lassen ihre Stimmungen plastisch werden. | |
| In manchen tänzerischen Passagen erinnert „Sym-Phonie MMXX“ an Sasha Waltz' | |
| Inszenierung von [3][Henry Purcells „Dido & Aeneas“], 2005 ihre erste große | |
| Arbeit für die Staatsoper und bisher immer wieder aufgeführt. Wenn | |
| Tänzer:innen, sehnsuchtsvoll die Arme ausgestreckt, von anderen im Sprung | |
| gefangen und getragen werden, sind diese Situationen der Zärtlichkeit und | |
| des Verlangens wieder präsent. So spielt auch die eigene Vertrautheit mit | |
| dem Werk von Sasha Waltz eine Rolle dafür, diesmal von ihr wieder berührt | |
| zu werden. | |
| 15 Mar 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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