| # taz.de -- Ballett in der Deutschen Oper Berlin: Zart getanzte Illusionen | |
| > „Bovary“ ist die erste Choreografie von Christian Spuck für das Berliner | |
| > Staatsballett. Das Unglück der Protagonistin geht einem zunehmend nahe. | |
| Bild: Eine Szene aus „Bovary“, dem ersten Ballettstück von Christian Spuck… | |
| Oh, diese vielen Paare: Mit Händen und Arabesken zeichnen sie sich | |
| verschlingende Linien in die Luft, mit sanften Wellen, die durch den ganzen | |
| Körper laufen, durchdringen sie den Raum gemeinsam; oh, diese Paare, die | |
| sich suchen in Drehungen und finden in Hebungen und in zarten Figuren immer | |
| aufs Neue zusammenkommen: Sie feiern den Pas de deux, und damit ein | |
| Herzstück der Kunst des Balletts selbst, den ganzen Abend lang. | |
| In „Bovary“, [1][dem ersten Ballettstück, das Christian Spuck für das | |
| Staatsballett Berlin entwickelt hat], sind sie in schattigen Kostümen aus | |
| dünnen Stoffen immer präsent, wenn Emma Bovary, in steifen Roben aus | |
| glänzenden Stoffen, beinahe unbeweglich an einem Fleck festgefroren, | |
| unzufrieden mit ihrem ereignislosen Leben als Ehefrau eines Landarztes, | |
| sich ihrer Sehnsucht und ihren Fantasien hingibt. Käme doch endlich eine | |
| solche Bewegung in ihr Leben und Leidenschaften, die sie aus dem Alltag | |
| reißen. | |
| Romandramatisierungen auf der Theaterbühne gibt es schon lange zuhauf. Im | |
| Ballett dagegen geschieht es seltener, dass ein Stück einen Roman erzählt. | |
| Christian Spuck ist der neue Intendant des Staatsballetts Berlin. Über zehn | |
| Jahre lang war er zuvor Direktor des Balletts in Zürich und auch da schon | |
| mit einer der großen tragischen Frauenfiguren der Literatur, „Anna | |
| Karenina“ nach Tolstoi, erfolgreich. | |
| Nun hat er [2][Flauberts Roman] in einer Inszenierung adaptiert, die der so | |
| schön und zart getanzten Illusion der romantischen Liebe ihr ständiges | |
| Scheitern entgegenhält. Weronika Frodyma, Solotänzerin beim Staatsballett, | |
| das an diesem Abend fast mit allen 79 Tänzer*innen seines Ensembles | |
| dabei ist, hat als Emma Bovary keine einfache Rolle. Oft gehört die Bühne | |
| den Bildern ihrer Fantasie. Ihre Unzufriedenheit und ihre Langeweile, die | |
| zu verstehen einige wenige Zitate aus dem Roman helfen, sind zunächst | |
| passive Zustände, die sie erleidet. Erst in der Begegnung mit Liebhabern, | |
| seien sie auch noch so unzuverlässig, gerät auch sie in Bewegung und darf | |
| die großen, weichen und weiten Bögen tanzen, die Spucks Choreografie so | |
| anziehend machen. | |
| Klavierkonzerte von Camille Saint-Saëns | |
| Als ein weiteres erzählerisches Mittel kommt die Musik hinzu, gespielt vom | |
| Orchester der Deutschen Oper Berlin. Klavierkonzerte von Camille | |
| Saint-Saëns tragen durch die Szenen von Bovarys Hochzeit, von einem Ball, | |
| von einem Fest in der Provinz und einem Besuch in der Stadt. Dieses äußere | |
| Leben ist stets wie ein Fest inszeniert, verschiedene Gruppen füllen den | |
| Raum mit Reihen und Reigen aus quirligem Leben, das Emma zunächst wie ein | |
| Zaungast bestaunt. | |
| Kompositionen von Györgi Ligeti, Charles Ives und Arvo Pärt dagegen | |
| zeichnen ihr Inneres, ihr rastloses Suchen nach mehr, ihren unbefriedigten | |
| Lebenshunger, ihre zitternden Nerven. Das Libretto der Szenen und die Musik | |
| erzeugt dabei eine immer größere Nähe zu der Verzweiflung dieser einsamen | |
| Frau, die außer die Liebe zu suchen leider keinen anderen Plan im Leben | |
| hat. | |
| Am Ende wird sie gejagt von einer Schar schwarzgekleideter, skurril | |
| geschminkter Männer, die dem Cabinet des Doktor Caligari entlaufen zu sein | |
| scheinen, expressionistische Gespenster, die sie mit grotesken und | |
| verzerrten Bewegungen in die Enge treiben. Es sind die Karikaturen der | |
| Bürger, die mit Verachtung auf Bovary blicken und sie in den Selbstmord | |
| treiben. | |
| Gegen Ende wird das Spiel von Weronika Frodyma zunehmend differenzierter | |
| und ergreifender. Ihr letzter langer Tanz ist der einer Frau, die sich | |
| selbst verloren hat und durch eine Wüste bewegt, in der ihr nichts mehr | |
| vertraut ist. | |
| Eng geschnürte Spielräume | |
| Die Romanfigur Emma Bovary ist nicht zuletzt deshalb berühmt geworden, weil | |
| ihr individuelles Scheitern und Versagen die Konturen der eng geschnürten | |
| Spielräume aufscheinen ließ, die das Leben von (verheirateten) Frauen so | |
| mitleidslos einschränkte. Emmas Begehren gilt nicht der Freiheit und doch | |
| ist deren Fehlen mitverantwortlich für die Beschränktheit ihrer Fantasien. | |
| Von Emma Bovarys Leiden in der Inszenierung einen Bogen zu ziehen zu den | |
| gegenwärtigen Kämpfen von Frauen gegen Unterdrückung ist allerdings ein | |
| weiter Weg, den das Stück nicht unbedingt nahelegt. Seine Stärke ist doch | |
| mehr ein historisches Bild. | |
| Flauberts Roman zu lesen, ersetzt der Besuch des Tanzstücks natürlich | |
| nicht. Auch wenn die kühle Beobachtung und der Witz seiner Sprache in den | |
| Zitaten aufscheinen, kommt die choreografische Illustration der | |
| gesellschaftlichen Milieus doch nicht an die im Roman heran. Aber Spucks | |
| Choreografie hat dafür ihren eigenen Witz, die klassische Ballettsprache | |
| ist mit ungewohnten Phrasierungen und Entgleisungen aufgemischt, ein | |
| ironischer Gestus spielt immer mit. So unterhält man sich gut an diesem | |
| Abend. | |
| 24 Oct 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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