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# taz.de -- Oper über das Sterben: Auf dem Weg ins Reich des Todes
> Inhaltlich und künstlerisch überzeugend: „Koma“ in Braunschweig zu Musik
> von Georg Friedrich Haas und mit einem Text von Händl Klaus.
Bild: Entrückt: Immer wieder versuchen alle Kontakt aufzunehmen zur Komatösen
Nicht nur Philosophieren, auch die Beschäftigung mit Kunst könnte helfen,
sterben zu lernen. Also entweder die Gelassenheit zu entwickeln, sich mit
der eigenen Endlichkeit anzufreunden – oder das Bedrohungspotenzial unserer
Erfahrungs- und Erkenntnislücke beim Thema Tod abzumildern, indem wir seine
Unausweichlichkeit weniger endgültig erscheinen lassen mit der Behauptung
einer Sinn verheißenden Ordnung der Welt oder eines Ewigkeit verheißenden
religiösen Bezugssystems.
Weil sich all das am besten an der Grenze zwischen Leben und Tod verhandeln
lässt, siedelt das Staatstheater Braunschweig genau dort seine
Auseinandersetzung mit dem Sterben an – „Koma“ ist die Oper betitelt:
[1][Georg Friedrich Haas] vertonte dafür einen Text von [2][Händl Klaus].
Beide spielen mit dem Schwebzustand zwischen letzten Lebenszuckungen und
dem totalen Verschwinden in einem wie auch immer ausgestatteten Jenseits
oder Nichts. Intendantin Dagmar Schlingmann inszeniert das Werk mit Mitteln
des surrealen Theaters als immersives Erlebnis.
Die Besucher:innen sitzen auf der Bühne des Großen Hauses, platziert
zwischen der Streicher- und Bläser-Gruppe des Staatsorchesters, die um
Perkussionist:innen verstärkt wurden. Hinter/unter der
Zuschauer:innentribüne singt die sterbend hinfortgleitende Michaela
nicht mehr Worte zur verbalen Verständigung, vielmehr kündet sie mit
wohlfeil intonierten Vokalisen von der abgeschotteten Unbewegtheit ihres
wie narkotisierten Rest-Daseins. Sie ist im Wachkoma gefangen nach einem
Badeunfall, der wahrscheinlich ein Selbstmordversuch war.
## Sprünge, Verschiebungen und Lücken
Vereinnahmend durch ihren Sopranklangzauber und die Positionierung im
Kontext des Publikums wird ihm suggeriert, es würde aus Michaelas
Perspektive aufs Geschehen schauen, dem verzerrten Bewusstseinsstrom in
ihrem träumenden Kopf. Zu betrachten ist das in einem Gazekubus, der vor
dem Publikum hin und her sowie kreuz und quer bewegt wird. Passend zu der
Erzählweise voller Sprünge, Verschiebungen und Lücken. Projizierte Bilder
blubbernder Oberflächen verstärken die wundersame Atmosphäre ebenso wie die
bleich-lila Kostüme des zehnköpfigen Ensembles.
Wie von Haas vorgeschrieben, sind die Szenenfragmente in drei
Beleuchtungsstufen voneinander getrennt, obwohl nicht deutlich wird, warum
diese Sätze im Grellhellen, jene im Schummrigen, wieder andere – bis zu
acht Minuten lang – in totaler Finsternis geäußert werden. Was zumindest
den Hörsinn feiner justiert und die Aufmerksamkeit intensiviert für die
Handlungsschnipsel.
Klinisch steril räsonieren Ärzte und Pfleger in überartikulierter
Sprechdiktion ihre Diagnosen, Behandlungsanleitungen und Verhaltenstipps
für die hilflos verzweifelnden Angehörigen, die am Krankenbett Michaelas
nicht wissen, was oder ob sie überhaupt noch etwas wahrnimmt.
Entrückt wirken die direkten Ansprachen durch den Ehemann, die Schwester,
den Geliebten und die Mutter (beide von Daniel Gloger verkörpert, als
Bariton bzw. Countertenor). Alle versuchen Kontakt aufzubauen, wollen die
Unzugängliche trösten, ihr helfen, sie zu Reaktionen animieren und zurück
in ihre Realität holen. Stumm beobachtet von der tieftraurigen Tochter.
## Traumata und Trigger
Zudem schwirren immer wieder Gedächtnisfetzen von Michaelas
Traumatisierungen vorüber. Depression, das Scheitern in Liebesdingen und im
Lehrerinberuf sind angedeutet. Als es um Gewalt der Mutter geht, wird das
Trommelarsenal heftig bearbeitet. Schockierend dann, als die Mutter ihrer
jung schwanger gewordenen Michaela entgegenschleudert: „Dir wünsche ich ein
totes Kind. Ich wünsche dir den Tod, mein Kind.“
Ein schier endloser Strickschal des Vaters wird bald zum Trigger,
Missbrauchserfahrungen aufblitzen zu lassen. Auch Kindheitsbilder tauchen
auf mit Einhorn und Dinosaurier als bedrohlich überdimensionierte
Kuscheltiermonster.
Haas’ [3][mikrotonal geprägte] Klangflächen verweisen auf das verdämmernde
Sein Michaelas – und nutzen dabei das wirkungsmächtige musikalische
Vokabular des Nächtlichen und Unheimlichen. Es reicht von wisperndem
Saitenklang über Herzschläge, die sich in hochfrequentem Flirren auflösen,
bis hin zu eruptiven Ausbrüchen zum Ausloten emotionaler Extremzustände.
Haas ist ein Meister des Schichtens, Verschachtelns, Verdichtens des
kompositorischen Materials.
## Verschwinden im Ungewissen
Wie die Musik den Zwischenzustand einer uneinholbar Entrückten mehr als 100
Minuten lang grundiert, befeuert, überhöht, konterkariert und abstrahiert,
ist ebenso großartig wie es die Musiker:innen sind, die bruchlos von
den dirigierten Passagen im Hellen zu den auswendig in die Schwärze
hineininterpretierten Takte gleiten.
Am Ende sind nur noch verwehende „Michaela“-Rufe zu hören. Nach ihrem Leben
und ihren Albträumen im Schnelldurchlauf, nach dem Aufbegehren, was das
Krankenhausteam mit ihrem paralysierten Körper anstellt, und der
verstörenden Familienaufstellung scheint die Protagonistin nun endgültig im
Ungewissen zu verschwinden, dem Reich des Todes. Die Musik klingt dabei wie
ein Sehnsuchtsschwelgen, hofft doch wahrscheinlich jede:r, dass der
Abschied so leicht vonstatten gehe – wie eine sanfte Ausblende.
Im Libretto heißt es, Michaelas Blick sei leer. Aber ihr Herz schlage, sie
sei warm, atme selbstständig und zeige noch Reflexe. Körperfunktionen, die
medizintechnisch noch lange aufrechterhalten werden können. Aber das
[4][Gehirn von Wachkomapatient:innen], darauf weisen Studien und auch
der Neurobiologe Martin Korte von der TU Braunschweig im Programmheft hin,
ist unumkehrbar tot, es fehlt wohl jegliche Voraussetzung für eine bewusste
Wahrnehmung.
Michaela dürfte also nichts mehr sehen, fühlen, denken. Die Setzung des
Stücks, wir erleben ihr Erleben der letzten Stunden, ist also
wissenschaftlich falsch. Überzeugt aber künstlerisch, weil eine vibrierend
verdichtete Theatersituation geschaffen wird, die einen suggestiv mit
hineinnimmt in die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit. Ein
musikalisch, optisch, inhaltlich lange nachhallender Abend. Wohl
Schlingmanns beste Regiearbeit in ihren bisher sieben Jahren in
Braunschweig.
5 May 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Jens Fischer
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