# taz.de -- Dokumentarfilm „GOSIA@TOMEK“: Liebe in Zeiten des Wachkomas | |
> In „GOSIA@TOMEK“ erzählt Christine Jezior vom Leben mit einem Menschen | |
> mit Schwerstbehinderung. Die Dokumentation ist ein echter Liebesfilm | |
> geworden. | |
Bild: Teilhabe am ganzen Leben: Gosia nimmt Tomek unter anderem mit auf Feten | |
Seit dem Jahr 2013 schreibt Gosia Romanowska an jedem Tag eine E-Mail an | |
den von ihr geliebten Tomek. Inzwischen sind dies über 3.000 Nachrichten. | |
Doch Tomek hat nie geantwortet, denn er konnte keine von ihnen lesen. Tomek | |
liegt seit einem Unfall im Wachkoma, und da Gosia ihn pflegt, ist sie ihm | |
körperlich an jedem Tag sehr nah. | |
Sie tut alles, um ihn an ihrem Leben teilhaben zu lassen, und da Gosia eine | |
sehr lebensfrohe und sportliche Frau ist, bedeutet dies, dass sie mit ihm | |
im [1][Rollstuhl] auf Feten ausgelassen tanzt und mit ihm sogar einen | |
Marathon läuft, oder besser schiebt. Da wird ihr schon mal vorgeworfen, | |
dass sie dem Kranken seine Würde nimmt. Und für Außenstehende mag es | |
tatsächlich so aussehen, als würde da der wehrlose Körper von einem | |
Menschen ohne eigenen Willen ausgestellt. Aber wie kann man sich in diese | |
extreme Lebenssituation hineinversetzen, und wie anmaßend ist es, darüber | |
ein Urteil zu fällen? | |
Genau hier setzt die in Bremen lebende polnische Filmemacherin Christine | |
Jezior mit ihrem Dokumentarfilm „GOSIA@TOMEK“ an. Sie hat Gosia mit ihrer | |
Kamera begleitet. So gelingt es ihr, diese Liebesgeschichte aus einer | |
Innensicht zu erzählen. Und eine Liebesgeschichte ist es, denn Gosia hat | |
ihr ganzes Leben geändert und konzentriert sich mit einer immensen Energie | |
darauf, Tomek so gut zu pflegen, wie es ihr möglich ist. Denn obwohl er | |
immer da ist, fehlt er ihr doch. Von seinem Bewusstsein scheinen nur | |
winzige Reste übrig, aber er hat den wachen Blick eines Menschen, der | |
wahrnimmt, was mit ihm geschieht. | |
Gosia spricht davon, dass er durch Blinzeln mit ihr kommuniziere. Auch | |
durch seine Körpersprache kann er ihr Zustimmung oder Ablehnung vermitteln. | |
Aber diese von anderen kaum wahrnehmbaren Zwiesprachen sind so rudimentär, | |
dass man kaum von einem Austausch sprechen kann. Gosia vergleicht ihr | |
Verhältnis zu ihm denn auch mit dem einer Mutter zu ihrem Baby. | |
Ihr bleibt die Hoffnung: Zuerst glaubte sie den Ärzt*innen, dass Tomek nach | |
sieben Tagen aus dem [2][Koma] erwachen würde. Inzwischen sind es mehr als | |
neun Jahre, und Gosia glaubt immer noch, dass er irgendwann wieder gesund | |
wird. Und es scheint auch kleine Verbesserungen zu geben: Er hat gelernt, | |
ein winziges Stück Gemüse, das Gosia ihm in den Mund gelegt hat, zu kauen | |
und herunterzuschlucken. | |
Einmal scheint er sie sogar zu küssen, aber das könnte auch eine | |
unwillkürliche Bewegung seiner Lippen gewesen sein. Christine Jezior hat | |
im Jahr 2020 ihre letzten Filmaufnahmen mit den beiden gemacht, und Gosia | |
wird zusammen mit Tomek zur [3][Premiere am Donnerstag] in das Bremer Kino | |
„Die Gondel“ kommen, aber sein Zustand hat sich auch bis heute kaum | |
verbessert. | |
Christine Jezior hat anderthalb Jahre lang Aufnahmen von den beiden | |
gemacht. Oft sind sie intime Momente, die deutlich machen, wie viel | |
Vertrauen Gosia zu der Filmemacherin entwickelt hat. Ein Beweis dafür ist | |
auch, dass sie ihr all die E-Mails anvertraut hat. Sie bilden den | |
erzählerischen Rahmen des Films, denn die von Gosia vorgelesenen Zitate | |
sind chronologisch geordnet und so kann anhand von ihnen nacherzählt | |
werden, wie sich die Lebensumstände von Gosia und Tomek in dieser langen | |
Zeit verändert haben. | |
Diese Sequenzen wirken wie die Anfänge von Kapiteln, und in ihnen sieht man | |
auch Handyaufnahmen vom Gosia und Tomek vor dem Unfall: Tomek ist da ein | |
junger Mann, der sehr sportlich wirkt und immer in Bewegung zu sein | |
scheint. Durch diese Bilder wird deutlich, wie wenig von ihm nach dem | |
Unfall übrig geblieben ist. | |
Im Grunde sind diese E-Mail-Nachrichten ja wie Eintragungen in ein | |
Tagebuch, und in ihnen beschreibt Gosia, wie verzweifelt sie manchmal war, | |
wie sie mit Selbstmordgedanken umgegangen ist und wie sie nach und nach | |
alle Freunde und Freund*innen verloren hat. Hier wird deutlich, dass | |
diese Liebe nichts mit den gängigen romantischen Vorstellungen zu tun hat. | |
Stattdessen schafft sie Leiden und gibt auch die Kraft, mit dieser Bürde | |
leben zu können. Christine Jezior macht mit ihrem Film deutlich, wie | |
mühselig es ist, sich um eine extrem pflegebedürftige Person zu kümmern und | |
wie symbiotisch solch eine Beziehung unter diesen Bedingungen werden kann. | |
Gosia Romanowska und Tomek leben in Polen. Also wird im Film nur Polnisch | |
gesprochen, es gibt Untertitel. Dennoch ist es auch eine deutsche | |
Produktion: Christine Jezior ist 1986 aus der damaligen Volksrepublik in | |
der Tauwetterperiode nach der Zeit des Kriegsrechts ausgewandert. In Bremen | |
hat sie zuerst eine Konzertagentur für junge klassische Musiker*innen | |
gegründet und wurde dann Filmemacherin, die vor allem [4][Dokumentationen | |
über klassische Musik] produzierte. In „GOSIA@TOMEK“ zeigt sie, wie | |
souverän sie die Mittel des Mediums beherrscht. | |
So hat ihr Film eine raffinierte Dramaturgie. Er beginnt mit Bildern, die | |
schockieren sollen: Da sieht man Tomek in einer grotesken Verkleidung, wie | |
er scheinbar hilflos auf einer Party auf der Tanzfläche hin und her | |
geschoben wird. Doch das Unbehagen, das diese Bilder auslösen, wird immer | |
mehr durch den Respekt vor Gosia abgelöst, die unbeirrt ihren Weg zusammen | |
mit Tomek geht: Ihr gemeinsames Leben ist so extrem, dass sie ihre eigenen | |
Regeln dafür schaffen muss. Am Schuss des Films hält Gosia einen | |
minutenlangen Monolog, in dem sie hellsichtig und ohne jedes Selbstmitlied | |
ihre Situation schildert. | |
Im Laufe des Films wird zwar wiederholt von Tomeks „Unfall“ gesprochen, | |
aber dessen Umstände werden nicht erklärt. Dieser Spannungsbogen wird bis | |
zur letzten Minute des Films gehalten, und die Lösung ist dann wirklich | |
erschütternd, denn Tomeks Koma wurde durch ein so alltägliches und | |
zufälliges Missgeschick ausgelöst, dass es wirklich alle von uns treffen | |
könnte. | |
6 Oct 2022 | |
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[4] http://www.maam.tv/index.php | |
## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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