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# taz.de -- Fünf Jahre Wachkoma: Ein zweites Leben
> „Ihr Gehirn ist kaputt“, lautete die Diagnose des Arztes. Fast fünf Jahre
> liegt Carola Thimm im Wachkoma. Sie kämpft sich nun ins Leben zurück.
Bild: Das O steht in der Tauchersprache für Okay – Carola Thimms erste sicht…
PREETZ taz | Mit schnellen Schritten eilt Carola Thimm die Treppe hinauf.
In der einen Hand den Wohnungsschlüssel, in der anderen die Sporttasche.
Noch bevor sie in der Wohnung ist, erzählt sie vom Yoga, wo sie gerade
herkommt, und vom Zumba, wo sie nachher hingeht. Gegenüber, im Rehazentrum.
Der Sport spielt eine zentrale Rolle in ihrem Leben, dem alten wie dem
neuen. Tauchen und fliegen darf sie nicht mehr – wegen des gefährlichen
Drucks im Kopf.
46 Jahre alt ist Carola Thimm heute. Sympathisch zerzaust stehen ihr die
blonden Locken in alle Richtungen vom Kopf. Sie spricht schnell, hat viel
zu erzählen und noch mehr nachzuholen. Fünf Jahre ihres Lebens.
„Da draußen, in der Feldmark, da ist es passiert“, sagt sie und deutet in
Richtung Fenster. Es ist Pfingstmontag 2004. Sie schlägt den sandigen
Waldweg ein, am kleinen See vorbei etwas außerhalb des ostholsteinischen
Städtchens Preetz. „Dort bin ich gerne gejoggt“, berichtet Carola Thimm,
„aber an diesem Tag bin ich gewalkt. Wegen der Schwangerschaft. Ich wollte
kein Risiko eingehen.“
Sie lacht wie über einen schlechten Scherz. Was die werdende Mutter damals
nicht wusste: In ihrem Kopf hatte sich ein Aneurysma gebildet, eine
erweiterte Arterie im Gehirn.
Ja, doch – Kopfschmerzen hätte sie schon länger gehabt. Aber die hätten
doch tausend Gründe haben können. Die Farbe im frisch gestrichenen
Kinderzimmer zum Beispiel. „Ich wollte doch endlich eine Familie gründen.“
Nervös faltet sie ihre Hände, an ihrem Ringfinger wickeln sich zwei goldene
Schlangen ineinander.
## Die Vielgereiste
„Dieser Ring ist aus Kenia“, sagt Carola Thimm. „Da habe ich mir Schlangen
um den Hals hängen lassen“, fügt sie noch hinzu und geht in ihr
Schlafzimmer. An der Wand hängt eine große Weltkarte, übersät mit vielen
Nadeln. „Da war ich wohl überall“, sagt sie stolz und verunsichert
zugleich. Tunesien, Malaysia, Thailand, Venezuela, Florida, Türkei, Malta,
Norwegen, Dänemark, Costa Rica. An die meisten Orte hat sie schöne
Erinnerungen. Wieder. Wirklich erinnern kann sie sich nicht. Sie hat sich
ihre Erinnerungen zurückgeholt, erarbeitet, mithilfe von Fotos und Akten,
die ihr vergangenes Leben dokumentieren.
Carola Thimms Vergangenheit ist ein einziger Flickenteppich, zerrissen und
zerlöchert. „Plötzlich war alles schwarz“, sagt die frühere
Verwaltungsangestellte. Wieder steht sie am Fenster. Doch so sehr sie auch
in die Ferne schaut, erinnern kann sie sich nicht. Nicht daran, wie ein
Spaziergänger sie dort findet. Nicht, wie sie ins Krankenhaus kommt. Und
auch nicht an die vielen Operationen, die folgen werden. Zu ihrem Schutz
und dem des ungeborenen Kindes wird sie in ein künstliches Koma versetzt,
verfällt dann in einen Zustand, den die Ärzte „Apallisches Syndrom“ nenne…
Wachkoma, übersetzt Carola Thimm.
In einem Zustand zwischen Bewusstlosigkeit und Wachsein werden beim
Wachkoma die lebenswichtigen Funktionen des Körpers aufrechterhalten. In
der 32. Schwangerschaftswoche setzen bei Carola Thimm die Wehen ein, per
Kaiserschnitt kommt das Baby zur Welt, die Mutter bleibt im Wachkoma. An
die Geburt wird sie sich nie erinnern. Sie wird nicht verstehen, dass es
ihr Kind ist, das in den nächsten Jahren zu ihr ins Krankenbett krabbelt.
Das Kind wird sie umgekehrt als einen Menschen kennenlernen, der nicht
spricht, sich nicht bewegt, nicht teilhat an seinem Leben.
Carola Thimm wird künstlich ernährt. Alle zwei Tage besuchen ihre Eltern
sie in der 40 Kilometer entfernten Neurologischen Klinik in Bad Segeberg.
Stundenlang sitzen sie am Bett ihrer Tochter, halten ihre Hand, reden mit
ihr. Carola Thimm kann ihre Gesichter sehen, jedes ihrer Worte verstehen.
Aber reagieren kann sie nicht darauf. Der Körper ist außer Gefecht gesetzt,
ihr Kopf aber funktioniert. Und sie spürt die Nähe, die Zuwendung ihrer
Eltern.
Als ihr Vater immer seltener mit in die Klinik kommt, beginnen ihre
Gedanken zu rotieren. „Er ist enttäuscht, weil ich nichts mehr kann. Nicht
sprechen, nicht einmal etwas zeigen.“ Erst Jahre später erfährt sie, dass
ihr Vater im Juli 2007 an Krebs starb. Und dass sie auf seiner Beerdigung
im Rollstuhl dabei war. Erinnern kann sie sich daran bis heute nicht.
## Das Gehirn „wie ein Sieb“
„Mein Gehirn war wie ein Sieb“, erklärt Carola Thimm, „es ließ nichts
Negatives durch. Als wollte es mich schützen. Meinem Körper ging es ja
schlecht genug.“ An alles Positive dagegen kann sie sich erinnern, „an
angenehme Gefühle und schöne Erlebnisse“.
Die Hoffnung auf Genesung hat sie in dieser Zeit niemals aufgegeben. In
ihren Augen blitzt plötzlich Wut auf. „Sie hat keine Chance. Sie wird
sterben. Und wenn sie nicht stirbt, wird sie sich nie wieder bewegen oder
reden können. Ihr Gehirn ist kaputt!“, so lautete 2004 ihre Diagnose.
Mehrfach hat sich ihre Mutter diese Worte anhören müssen. „Von diesem einen
Arzt, diesem Dussel“, wie Carola Thimm ihn nennt. Das meint sie nicht
besonders liebevoll.
Während sie regungslos in ihrem Krankenhausbett liegt, blass und
aufgedunsen von den Medikamenten, steht ihre Familie nach drei Jahren
Wachkoma vor Entscheidungen: Wer soll die teure Klinik weiter bezahlen? Wo
kann sie sonst hin? Sie zu Hause zu pflegen, ist wegen der Krampfgefahr
ausgeschlossen. Die Hoffnung auf eine Veränderung ihres Zustands haben zu
dieser Zeit nicht nur die Ärzte aufgegeben.
## Der Weg ins Leben zurück
„Wenn nach drei Jahren nichts passiert, passiert nichts mehr“ – zumindest
in der Regel sei das so, erklärt Carola Thimm. Sie ist die Ausnahme von der
Regel. Das Alten- und Pflegeheim in Preetz nimmt die Komapatientin auf. Mit
einem Leuchten in den Augen schwärmt sie von dieser Zeit wie von einer
ihrer Reisen. Sie erinnert sich gut daran, wie wohl sie sich dort gefühlt
hat. Und dass ihre Mutter nun jeden Tag kommt.
Sie ist die Einzige, die noch an ihre Tochter glaubt. Sie liest ihr Bücher
vor, dicke Schwarten, stapelweise. „Wenn etwas lustig war, habe ich
gelächelt“, erklärt Carola Thimm mit einem verschmitzten Lächeln. „Und w…
es langweilig war, habe ich desinteressiert zur Seite geguckt.“ Ihre Mutter
ist die Einzige, die in diesen Reaktionen mehr als bloßes Muskelzucken
sieht.
Insgesamt fast fünf Jahre verbringt Carola Thimm im Wachkoma. Immer wieder
hat sie starke Krämpfe, doch irgendwann werden ihre Medikamente umgestellt
und sie wird langsam wacher. „Im Februar 2009“, sagt sie und hebt wortlos
ihren rechten Arm, ganz langsam. Als ihre Hand die Höhe ihrer großen
goldenen Ohrringe erreicht, macht sich ein vorsichtiges Lächeln in ihrem
Gesicht breit.
Zeigefinger und Daumen bilden einen Kreis. „O wie okay“, erklärt sie die
Bedeutung des Tauchzeichens. Ein Bekannter zeigt es ihr am Krankenbett. Und
Carola Thimm beantwortet es mit der gleichen Geste. Und einem Lächeln. Es
ist das erste Mal, dass sich die Frau mitteilen kann. Fortan geht es
bergauf.
In kleinen Schritten nähert sie sich den großen Veränderungen in ihrem
Leben, diesem Flickenteppich aus Erinnerungsfetzen und vielen schwarzen
Löchern. Die meisten Namen, Daten, Gesichter sind anfangs wie ausgelöscht.
Ihre Familie aber erkennt sie sofort. Dass das Mädchen auf dem Arm ihrer
Schwester nicht deren zweites Kind ist, weiß sie nicht. Nur langsam stellt
sich das Mutterglück ein, auf das sie sich so gefreut hatte.
## Alles neu erlernen
Ihre Ehe hat das Wachkoma nicht überlebt. Aus dem Ehemann ist ein Helfer
geworden, die Liebe aber verschwunden. Carola Thimm wird versuchen, sie
wiederzufinden, Liebesbriefe schreiben. Bis zu acht Seiten lang. Vergebens.
Der Vater ihrer Tochter hat sich neu verliebt.
Sie kämpft sich ohne ihn zurück ins Leben. Nach fünf Jahren
Bewegungslosigkeit muss sie gehen lernen, stehen lernen, Treppen steigen.
Dann kommen komplexere Tätigkeiten wie Zähneputzen, Wäschewaschen,
Bettenbeziehen, Teekochen. Und Fahrradfahren. „Wenn man alles verlernt,
verlernt man auch das“, sagt sie und lacht bei der Erinnerung. Wie ein
Kleinkind habe sie es üben müssen.
Mittlerweile ist Carola Thimm ein zweites Mal erwachsen geworden. Nach fünf
Jahren ohne Stimme kann sie problemlos wieder sprechen. Sogar schnell und
viel. Und auch Lesen und Schreiben bereiten ihr keine Schwierigkeiten mehr.
Carola Thimm hat ein Buch über ihr Wachkoma geschrieben.
Ihren Beruf als Beamtin im Sozialministerium kann sie nicht mehr ausüben.
Sämtliche Erinnerungen an das Studium des Verwaltungsrechts sind weg. „Mein
Gedächtnis ist zu schlecht, um es aufzufrischen. Mein Gehirn siebt zwar
nicht mehr so wie im Koma, aber ich vergesse doch noch einiges.“
## Die Tochter lebt beim Vater
Carola Thimm öffnet gedankenverloren eine Tür, auf der bunte Buchstaben
kleben. Das Zimmer ihrer Tochter. Diese lebt beim Vater, verbringt aber die
Hälfte der Ferien und jedes zweite Wochenende bei ihrer Mutter. Das musste
sich Carola Thimm vor Gericht erkämpfen. Auf dem Schreibtisch steht ein
kleines Skateboard. Carola Thimm stellt es auf den Boden. Erst runzelt sie
die Stirn, dann huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. „Das haben wir
zusammen auf dem Flohmarkt gekauft“, erinnert sie sich.
Im nächsten Moment schnappt sie sich Wohnungsschlüssel und Sporttasche und
flitzt die Treppen im Hausflur hinunter, über die Straße – zum Zumba im
Therapiezentrum gegenüber. Mit einem kräftigen Zug öffnet Carola Thimm die
schwere Glastür und verschwindet in einem der Umkleideräume. Laute Musik
tönt bis in den Eingangsbereich. Der Sport, erklärt Carola Thimm, als sie
zurückkommt, habe ihr zurück ins Leben geholfen. Und mittlerweile gehe es
ihr genauso gut wie früher.
Der Mann, dem sie das zu verdanken hat, der sie in der Feldmark fand, den
kennt sie nicht. „Leider. Ich hätte ihn gern getroffen“, sagt sie und
bindet die Schnürsenkel ihrer Turnschuhe zu. „So wie die Menschen in der
Klinik“, fährt sie fort. Da war sie noch mal. Irgendwann, als es ihr besser
ging. Einen Kuchen hatte sie gebacken. Für die Pfleger und die
Krankenschwestern, die netten Therapeutinnen und die Frau aus dem Büro. Und
ein bisschen auch für den Arzt. Ernst habe er ausgesehen, irgendwie
erstaunt. „Dieser Dussel hat genau gesehen, dass er sich geirrt hat.“
30 Jun 2015
## AUTOREN
Anne Golling
## TAGS
Dokumentarfilm
Yoga
Ehe für alle
Leben
Sterbehilfe
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