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# taz.de -- Streitgespräch zur Sterbehilfe: „Anfang und Ende sind unverfügb…
> Ärzte dürfen nicht zum Töten ermächtigt werden, sagt Gerhard Steier.
> Bewusste Abschiede seien das Beste, was Sterbenden passieren könne,
> entgegnet Gita Neumann.
Bild: Bei Überdosis tödlich: Schlafmittel Pentobarbital-Natrium.
taz: Am 1. November hat die todkranke Amerikanerin Brittany Maynard ihre
Ankündigung wahrgemacht und sich selbst getötet. Auch der ehemalige
MDR-Intendant Udo Reiter, der fast 50 Jahre im Rollstuhl saß, hat sich das
Leben genommen, weil er nicht „als ein von anderen abhängiger Pflegefall
enden“ wollte. Was halten Sie davon?
Gerhard Steier: Ich finde es befremdlich, dass weite Teile der Medien die
Selbsttötung von Herrn Reiter fast durchgängig als mutige Tat eines freien
Mannes bewerten. Nach Frau Maynards Tod gab es ähnliche Schlagzeilen, da
hieß es: „Nun hat Brittany Frieden gefunden, auch wenn ihr früher Tod nicht
zu verhindern war.“ Ich frage mich, ob sie wirklich Frieden gefunden hat.
Und war ihr Tod tatsächlich nicht zu verhindern?
Gita Neumann: Man muss die beiden Fälle unterscheiden. Die Amerikanerin hat
ein Suizidmittel von ihren Ärzten verschrieben bekommen. Herr Reiter hat
sich ohne jegliche Hilfe selbst getötet. Sie war todsterbenskrank, das war
Herr Reiter nicht. Er ist ja wenige Tage vor seinem Suizid noch im
Fernsehen aufgetreten.
Die Selbsttötung von Frau Maynard war gerechtfertigt und die von Herrn
Reiter nicht?
Neumann: Das will ich damit nicht sagen, ebenso wenig das Leiden von Reiter
herabwürdigen. Aber es geht in der Debatte ausschließlich um die Hilfe zur
Selbsttötung und möglicherweise um ein künftiges Recht auf medikamentöse
Unterstützung dabei. Wir müssen uns über verschiedene Fallgruppen
verständigen: Der Suizid von Sterbenskranken ist für fast alle
nachvollziehbar. Damit wird assoziiert, sich nicht freiwillig einem
schweren Leiden aussetzen zu wollen. Aber was ist mit noch relativ gesunden
Menschen, die ihrem Leben ein vorzeitiges Ende setzen wollen? Und was mit
Alterssuiziden?
Wäre es besser gewesen, Frau Maynard hätte einen qualvollen Tod erlitten?
Neumann: Wer dürfte ihr den denn mit welchem Recht auferlegen wollen? Sie
hat friedlich und bewusst Abschied genommen, von ihrem Leben, von ihrer
Familie. Das ist das Beste, was jemandem passieren kann.
Steier: Ich habe einen anderen Fall erlebt. Ein 60-Jähriger erlitt im ICE
seinen dritten Herzinfarkt und lag danach ein halbes Jahr im Wachkoma.
Viele Menschen würden jetzt sagen: Es wäre besser gewesen, er wäre gleich
gestorben. Seine Frau sagte mir später aber, dass das Wachkoma für sie und
die drei noch kleinen Kinder besser war, weil die Familie in aller Ruhe
Abschied nehmen konnte. Auch wenn es eine schwere Zeit war.
Neumann: Wenn die assistierte Selbsttötung gut vorbereitet ist, kann das
für alle Beteiligten positiv ablaufen – ähnlich wie bei einer häuslichen
Sterbebegleitung im hospizlichen Sinn.
77 Prozent der Deutschen sprechen sich für einen selbstbestimmten Tod aus.
Warum soll man diesem Willen nicht nachkommen?
Steier: Wir spielen sonst auch nicht demoskopische Demokratie.
Was meinen Sie damit?
Steier: Politik setzt nicht in jedem Fall um, was sich 77 Prozent der
Bevölkerung wünschen.
Neumann: Alle Umfragen zur Sterbehilfe sind über Jahre stabil. Darüber kann
man nicht einfach mit der Unterstellung hinweggehen, die Menschen wüssten
es nicht besser und müssten vor sich selbst geschützt werden.
Gibt es ein Recht auf menschenwürdiges Sterben?
Steier: Ich begrüße, dass Palliativmedizin und Hospize nicht mehr ganz so
vollmundig wie vor Jahren für jede Lage Abhilfe versprechen. Aber sie
können für fast jede Situation deutliche Linderung anbieten. Die meisten
assistierten Suizide finden nicht am Ende oder inmitten einer qualvollen
Situation statt, sondern eine ganze Zeit davor – aus Furcht, Qualen
erleiden zu müssen.
Ist eine Selbsttötung in einer qualvollen Situation nicht legitim?
Steier: Nein. Der Anfang wie das Ende des Lebens ist unverfügbar.
Ist es human, Menschen die letzte Selbstbestimmung abzusprechen?
Neumann: Unser Leben hat sich stark gewandelt. Heute müssen fast immer am
Lebensende medizinische Entscheidungen getroffen werden. Die persönliche
Selbstbestimmung ist da ein Gebot der Humanität und der Anerkennung
pluralistischer Wertvorstellungen.
Steier: Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, Nikolaus
Schneider, hat vor einiger Zeit gesagt, er sei zwar gegen Sterbehilfe. Aber
wenn ihn seine todkranke Frau darum bitten, würde er sie gezielt in den Tod
begleiten. Mit Verlaub: Das ist eine Bankrotterklärung an protestantische
Ethik. Diese individualistische Sicht bietet keine Orientierung.
Frau Neumann, Sie pflegen seit einiger Zeit Ihren Mann. Würden Sie seinem
Wunsch nach Sterbehilfe nachkommen, wenn er ihn äußern würde?
Neumann: Er ist ein Lebensmensch, Suizid kommt für ihn nicht in Frage.
Deshalb kann ich die Frage nicht beantworten. Aber noch ein Wort zum
Ehepaar Schneider. Zumindest sollte das ethische Prinzip gelten: Was ich
für mich und meine Frau beanspruche, sollte auch anderen nicht vorenthalten
bleiben.
Künftig soll ein Gesetz Sterbehilfe klar regeln.
Steier: Ich finde es schwierig, tragische Einzelschicksale zu
verallgemeinern. Wir sollten individuelle Fälle nicht zur Grundlage für
Gesetzesentscheidungen machen.
Die Abstimmung zum Gesetz soll ohne Fraktionszwang erfolgen, die
Abgeordneten dürfen nach ihrem Gewissen entscheiden. Es bleibt also
individuell.
Steier: Parlamentarier sind auch nur Menschen und entscheiden nach ihrer
Prägung oder religiösen Einstellung – so wie Ärzte, Mitglieder von
Ethikräten, Palliativmediziner. Wir müssen das Fass aber weiter aufmachen:
Was ist zum Beispiel mit den Angehörigen? Die geraten, wenn sie um
Suizidhilfe gebeten werden, häufig in eine traumatische Lage.
Neumann: Dafür gibt es gute vorbereitende Beratung und Begleitung.
Steier: Was verlangen wir eigentlich von den Ärzten? Ärzte sind dafür
ausgebildet, Leben zu erhalten. Und nun verdonnern wir sie dazu, mit
Medikamenten klinisch rein zu töten.
Neumann: Es geht doch nicht ums Töten. Es ist eine große Hürde, sich selbst
das Leben zu nehmen. Zugebenermaßen haben wir es in einer
medikamentalisierten Gesellschaft damit zu tun, dass im Namen von
Selbstbestimmung das selbst verantwortete Suizidanliegen gern an die
Ärzteschaft delegiert wird. Schon heute ist Hilfe zum Suizid straffrei –
was allerdings kaum bekannt ist. Deshalb wäre ein Gesetz, das die
Ärzteschaft privilegiert, Todkranken Suizidhilfe zu gewähren, nur
oberflächlich ein Fortschritt im Sinne eines selbstbestimmten Sterbens.
Wie sollte ein Gesetz aussehen?
Neumann: Ich gehe davon aus, dass es kein Gesetz geben wird. Weil jeder
Einzelfall juristisch schwer zu fassen ist.
Belgien und die Niederlande haben es geregelt. Dort ist sogar die
Suizidhilfe für todkranke Kinder und Jugendliche erlaubt.
Steier: Warum nimmt sich Deutschland nicht ein Beispiel am österreichischen
Modell? Dort wird Beihilfe zum Suizid mit sechs Monaten bis zu fünf Jahren
bestraft. Das deutsche Mantra, Suizid ist nicht strafbar, also kann auch
die Beihilfe dazu straffrei sein, wird selbst im eher liberalen England
anders gesehen.
Neumann: Das österreichische Gesetz ist eines der schärfsten
Suizid-Gesetze, die es weltweit gibt. Da werden sogar die Angehörigen
bestraft.
Steier: Es ist kein Zufall, dass gerade jetzt, in Zeiten einer älter
werdenden Gesellschaft, über Sterbehilfe debattiert wird. Es ist naiv, die
sozioökonomische Lage außer Acht zu lassen.
Sie meinen, dahinter steckt die politische Absicht, die demografische
Entwicklung zu beeinflussen?
Steier: Ich will nicht unterstellen, die Abgeordneten wollten die
Pflegekassen entlasten. Aber dass die Debatte um das sogenannte
selbstbestimmte Ableben jetzt geführt wird, sagt eben auch aus: Jeder, der
geht, ist ein Problem weniger.
Neumann: Sterbehilfe wird den Menschen doch nicht von irgendwelchen Mächten
suggeriert, um ihre Selbstentsorgung zu befördern. Sie sind vielmehr
realistisch genug, um zu wissen, was auf sie zukommen kann.
11 Nov 2014
## AUTOREN
Simone Schmollack
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