| # taz.de -- Konzert zur Elbphilharmonie-Eröffnung: „40 Jahre Schuldgefühle�… | |
| > Georg Friedrich Haas, Nazitäter-Kind und Sadomasochist, hat zur Eröffnung | |
| > des kleinen Saals das Stück „Release“ geschrieben. | |
| Bild: Gut für die Austik und die Ästhetik: geriffelte Wand des Kleinen Saals. | |
| taz: Herr Haas, warum kann ein Nazi Arnold Schönberg verehren, aber nicht | |
| John Cage? | |
| Georg Friedrich Haas: Schönbergs Zwölftontechnik kann abstrakt benutzt | |
| werden, von jedem. Einige Schönberg-Schüler sind sogar Nazis geworden. Cage | |
| dagegen komponiert eine Musik, die Freiheit verlangt, fordert und bringt. | |
| Deshalb hat mir Cage auch geholfen, der indoktrinierenden Welt meiner | |
| Eltern zu entkommen. Sie und meine Großeltern waren überzeugte Nazi-Täter. | |
| Auch Sie hingen als Jugendlicher der NS-Ideologie an. | |
| Ja, ich habe mich erst während des Studiums lösen können, wozu auch | |
| Diskussionen mit einem befreundeten Katholiken beitrugen. Er machte mir | |
| klar, dass Nationalsozialismus keine Grundlage hat. Hinter dem | |
| Katholizismus steht die Bibel und eine Auslegungstradition. Hinter dem | |
| Nationalsozialismus steht nichts. | |
| Doch. Hitlers „Mein Kampf“. | |
| Den nehmen doch die Nazis selbst nicht ernst! Meine Eltern haben mir | |
| verboten, „Mein Kampf“ zu lesen, weil sie Angst hatten, ich würde dem | |
| Nationalsozialismus abschwören, wenn ich diesen Quatsch läse. Die | |
| Erfahrung, die ich in meiner Familie gemacht habe, ist: Da gibt es null | |
| Ideologie. Nur einen verbalen Sumpf von Abendland, Nation und Familie. Im | |
| Grunde ist Nationalsozialismus ein organisierter Raubmord, verbrämt mit | |
| Versatzstücken einer sogenannten kulturellen Tradition. | |
| Hegen Sie als Täterkind und -enkel Schuldgefühle? | |
| Heute weiß ich: Solange ich sie hatte, war ich noch selbst gefangen in | |
| einer genetischen Ideologie. Nein, meine Schuldgefühle beschränken sich | |
| jetzt darauf, dass ich erst als Zwanzigjähriger bereit war, mich der | |
| Wahrheit zu stellen. | |
| Und dann gab es noch das Gespräch mit einer Holocaust-Überlebenden. | |
| Ja, es war die Mutter eines Bekannten, die aus Ungarn stammte. Bei einem | |
| Besuch habe ich sie – ungewollt taktlos – gefragt, ob mein Bekannter ihr | |
| einziger Sohn sei. Sie sagte: „Ich hatte noch einen zweiten Sohn, aber der | |
| ist im Zweiten Weltkrieg“ – dann kam eine Pause – „gestorben.“ In die… | |
| Pause hat sich alles gedreht wie in einem Strudel. Plötzlich begriff ich: | |
| Diese Frau ist Jüdin. Was sie erlebt hat, geht über alle Vorstellungen | |
| hinaus. | |
| Steht Ihr Komponieren für die Abkehr von Ihrer Täterfamilie? | |
| Mein ganzes Leben steht für diese Abkehr. Auch das Komponieren. | |
| Sie komponieren mikrotonal, nehmen – anders als konventionelle Komponisten | |
| – Viertel- und Achteltöne hinzu. Rebellieren Sie gegen Regeln? | |
| So denke ich nicht. Ich frage mich vielmehr: Was will ich hören? Dann | |
| stelle ich fest: Die Schrift, die wir haben, kann das nicht darstellen. | |
| Also muss ich neue Dinge aufschreiben. Und wenn mich das Resultat glücklich | |
| macht und ein Tor zur Transzendenz ist, stehen die Chancen gut, dass andere | |
| Menschen ähnlich empfinden. Neulich hörte ich einen Sänger, der Schumanns | |
| „Ich hab im Traum geweinet“ ausdrucksstark „falsch“ sang. Das lag daran, | |
| dass er einen bestimmten Tonabstand am Anfang etwas zu tief, am Ende etwas | |
| zu hoch sang – mikrotonal eben. Das war unglaublich intensiv. | |
| Mikrotonalität als Technik des Ausdrucks: Als Komponist überlasse ich das | |
| nicht mehr den Interpretierenden. Sondern ich schreibe es auf. | |
| Und wie funktioniert Ihr Stück „Release“, das Sie dem Ensemble Resonanz zur | |
| Elbphilharmonie-Eröffnung schrieben? | |
| Ich habe ja nicht nur die Identität als ehemaliger Nazi und | |
| Täter-Nachkomme, sondern auch als jemand, der als Sadomasochist eine | |
| alternative Sexualität lebt. In „Release“ geht es um den – auch | |
| orgiastischen – Atem, der freigelassen wird. | |
| Wie wird das ablaufen? | |
| Im ganzen Stück gibt es immer wieder Stellen, wo die Musiker ihre | |
| Zeitstruktur nach dem Atem richten. Ihr Spiel wird lauter oder leiser, als | |
| ob sie ein- und ausatmeten. Ihr Atem durchquert den Raum als feines | |
| Schweben. Am Ende atmet jeder im eigenen Rhythmus, und es erklingt ein | |
| Gebilde, wo nur ihre – elektronisch verstärkten – Atemzüge erklingen. | |
| Welche Rolle spielt der Raum – der kleine, wellenförmig getäfelte | |
| Elbphilharmonie-Saal? | |
| Als ich den Raum erstmals im Rohbau sah, war ich fasziniert von dem | |
| Galeriegang oberhalb des Saals. Ich dachte, es wäre phantastisch, wenn die | |
| Streicher je zwei Instrumente hätten, eines davon mikrotonal umgestimmt. | |
| Die traditionell gestimmten stünden auf der Bühne, die anderen auf der | |
| Galerie. Der nächste Gedanke war: Wenn das Publikum hereinkommt, spielen | |
| die Musiker bereits auf der Galerie. Auf der Bühne stehen die leeren | |
| Instrumente, vielversprechend, der Dirigent sitzt am Klavier, der Harfenist | |
| an der Harfe. Dieser Anfang ist eher eine Hintergrundmusik, die es erträgt, | |
| dass die Leute noch ein bisschen miteinander reden. Im Laufe des Stücks | |
| wechseln die Musiker der Reihe nach auf die Bühne und beginnen zu spielen. | |
| Ringen in „Release“ zwei Systeme miteinander? Die „richtige“ und die | |
| „falsche“ Tonhöhe? | |
| Nein. Der Punkt ist vielmehr: Es gibt keine allgemeingültige Regel. Es gibt | |
| nur das, was im Moment jeweils richtig ist. Ich habe beim Komponieren die | |
| Gewissheit: Das muss ich genau so schreiben. Und dann sage ich mir: „Georg, | |
| du bist verrückt geworden, das kann man doch nicht machen!“ Irgendwann | |
| begreife ich dann, dass es trotz allem so sein muss. | |
| Sie haben viele Jahre abstrakt, düster, wenig sinnlich komponiert. Woran | |
| lag das? | |
| Einer der Gründe, warum ich so abstrakt komponiert habe, war die auf Adorno | |
| basierende Idee, dass intellektuelle Musik die notwendige Antwort auf den | |
| Faschismus sei. Parallel habe ich versucht zu verstehen, was meine | |
| Vorfahren getan hatten. Viele Jahre habe ich innere Zwiegespräche mit | |
| meinen Nazi-Großvätern geführt. | |
| Über welche Themen? | |
| Zum Beispiel über die Geschichte einer jüdischen Familie, die in Wien | |
| bettelnd zu überleben versuchte. Sie klingelte bei meinem Großvater, und er | |
| rief die Gestapo. In meinem inneren Dialog habe ich ihn gefragt: „Diese | |
| Menschen müssen dir doch leid getan haben. Wie konntest du sie dem Tod | |
| ausliefern?“ Seine Antwort war: „Ich habe mich an das Gesetz gehalten.“ | |
| Was hat das mit Ihnen zu tun? | |
| Alles. In dem Augenblick wurde mir klar: Als Komponist mache ich genau | |
| dasselbe. Suche Gesetze und halte mich daran. Frage mich nicht: Was sagt | |
| das Gewissen? Als mir das klar wurde, veränderte sich meine Musiksprache. | |
| Heute bin ich so weit, dass mich kompositorische Gesetze nicht | |
| interessieren. Mich interessiert nur das, was in der Musik das Äquivalent | |
| zum Gewissen ist. Das Gefühl einer inneren Notwendigkeit. | |
| Und warum sind Ihre Stücke in den letzten Jahren positiver, lichter | |
| geworden? | |
| Die Dunkelheit hatte zwei Gründe: einerseits die Schuldgefühle angesichts | |
| der NS-Vergangenheit meiner Familie. Andererseits meine Sexualität. | |
| Aufgrund meiner – lange unterdrückten – sadomasochistischen Neigung hatte | |
| ich extreme Schuldgefühle. Nach meiner dritten gescheiterten Ehe bin ich | |
| nach New York gezogen, wo ich meine jetzige Frau traf. Wir leben eine | |
| überaus liebevolle dominant-submissive Beziehung. Ich habe 40 Jahre | |
| gebraucht, aber jetzt bin ich in Frieden mit meiner Sexualität. Seither | |
| brauche ich keine düstere Musik mehr zu schreiben. Und erst nachdem ich | |
| meine sexuelle Orientierung bekannt gemacht hatte, konnte ich öffentlich | |
| über die NS-Vergangenheit meiner Familie sprechen. | |
| Wie erklären Sie sich das? | |
| Vermutlich musste ich mich zunächst als Mensch in meiner Gesamtheit | |
| akzeptieren, bevor ich das Andere, Gewichtigere, öffentlich machen konnte. | |
| 6 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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