# taz.de -- Choreografie über Wiedergängerinnen: Archiv der Ungerechtigkeit | |
> In „Revenants“ laden Ursina Tossi und fünf Performerinnen zum | |
> feministischen Tanz mit den Gespenstern der Geschichte(n). | |
Bild: Alles zugleich und immer im Wechsel: Tossis Wiedergängerinnen | |
HAMBURG taz | Am Anfang steht der Tod. Und mit ihm die Wiederkehr. Auf | |
einer weiten Bühne liegen zwei leblose Körper, während im Hintergrund, auf | |
den rauen Putz der Rückwand projiziert (Video: Friederike Höppner), eine | |
riesenhafte Ameise umherirrt. Der Raum ist dunkel, fast wie in der Nacht. | |
Aus seinen Tiefen raunt ein suchendes Sirren und Summen. Leichen, diese | |
Assoziation stellt sich augenblicklich ein, dienen verschiedenen Insekten | |
als Nahrungsquelle und Brutstätte. Fliegen etwa legen ihre Eier auf Leichen | |
ab – schon nach kurzer Zeit schlüpft der Nachwuchs – eine Made. Am Anfang | |
also ist der Tod. Ist das Gewesene und die Verwesung. | |
Kurz darauf werden zwei nackte Performerinnen die Bühne betreten und die | |
beiden leblos Liegenden grob entkleiden. Ruhig, achtlos, technisch. Schlaff | |
klatscht dabei ein blanker Arm auf den Bühnenboden, sackt ein Oberkörper | |
schwer zur Seite. Die Tänzerinnen eignen sich die Kleidung an – ihre Spur | |
verliert sich im Dunkeln. Ursina Tossi findet für ihre jüngste Arbeit, die | |
Kampnagel eine Woche lang als Online-Stream zeigt, ein starkes Eingangsbild | |
und schafft eine ästhetische Setzung und zugleich eine beunruhigende | |
Irritation, die den ganzen Abend über andauern wird. | |
Wer sind diese Wesen? Sind sie „Revenants“, wie es der Stücktitel verheiß… | |
Oder sind sie noch Menschen? Sind sie Wiederkehrerinnen und damit Cyborgs? | |
Cyborgs in Sinne Donna Haraways, die diesen Begriff in ihrem „[1][Cyborg | |
Manifesto]“ im Jahre 1985 – verkürzt gesagt – feministisch so konnotiert, | |
dass diese Hybride aus Maschine und Organismus nicht nur die Grenze(n) | |
Mensch, Tier und Organismus auflösen, sondern auch die zwischen Mann und | |
Frau. Damit formulierte die sozialistische Feministin eine Vision, in der | |
jene Ungleichheiten, die Unterdrückung und Diskriminierung von Frauen zu | |
Folge haben, aufgehoben sind. | |
Die Choreografin [2][Ursina Tossi] hinterfragt immer wieder – so etwa in | |
ihren vorangegangen Arbeiten „[3][Blue Moon]“ (2018) und „[4][Witches]“ | |
(2019), die ebenfalls im Rahmen ihrer dreijährigen Konzeptionsförderung | |
entstanden sind – Konzepte von Geschlecht, Spezies, Technologie und Körper. | |
Ihre queerfeministischen Arbeiten mit intersektionalem Diskurs sind, denkt | |
man jetzt einfach mal an Zeiten ohne Corona, in Hamburg, aber auch in Köln | |
und Berlin zu sehen. | |
Mit „Revenants“ bewegt sich Tossi auf Haraways Spuren und hat dabei und | |
dennoch ein ungemein tänzerisches Stück geschaffen. Darin bewegen sich die | |
sechs Tänzerinnen – Rachell Bo Clark, Julia B. Laperrière, Amanda Romero | |
Canepa, Leah Marojevic, Rose Marie Lindstroem und Ursina Tossi – meist an | |
der Grenze zwischen Tier und Maschine, bilden mal ein mechanisch | |
ineinandergreifendes Räderwerk, bevor sie sich zu einer unberechenbaren | |
Meute zusammenrotten, aus der heraus sich einzelne Tänzerinnen bald wieder | |
herausschälen. Spähend, lauernd, jagend, animalisch. Als Wölfinnen, Hyänen, | |
Chimären. Als balzende Vögel, als sich beschnuppernde Wildkatzen. | |
Es ist eine (assoziative) Reise zurück aus der Zukunft. Eine Reise, ein | |
wilder Trip zu den Anfängen der Welt, mit dem Bestreben, diese neu zu | |
ordnen, sich für vergangenes Unrecht zu rächen, es wieder gut zu machen. | |
Deren Dämonen, Patriarchen und Hagenbecks zu überwinden, und deren | |
kolonialistisches (Un-)Erbe. Auch diese sind Untote wie die | |
Protagonistinnen selbst. Und so ist an diesem Abend die Vergangenheit immer | |
Teil der Gegenwart, führt der Weg der Wiederkehr immer in etwas bereits | |
Vorhandenes. Sind alle diese Überlebenden zugleich auch (Un-)Tote. | |
In großer Bilderdichte erstellt Tossi starke, oft fließend weich | |
komponierte Tableaux Vivants, in denen die Tänzerinnen sich in einem | |
gemeinsamen Körper aufzulösen scheinen. In dieser immer wieder | |
verblüffenden Einswerdung entsteht eine Art bildhaftes Live-Morphen, ein | |
organischer Prozess, der – unterstützt von den meist ruhigen, | |
zurückhaltenden, fast meditativen Sounds von Johannes Miethke – nur kurz | |
versöhnlich wirkt. | |
Immer nur so lange, bis die Protagonistinnen das gerade noch freiherzige | |
Lachen in raues Keuchen und bald in kehlige Urlaute verwandeln. Dabei | |
scheinen sie ihr Innerstes rückwärts aus sich herauszuwürgen, um kurz | |
darauf den beunruhigend dunklen Raum (Bühne: Hanna Lenz) gurrend, flirrend, | |
fast fliegend zu durchqueren. Dann muten sie an wie balzende Vögel, wenig | |
später sieht man sie kämpfend, sich gegenseitig zerfleischend auf allen | |
Vieren, dann sich technisch bekriegend mit roboterhaften, zuckend exakten | |
Bewegungen. | |
Zu diesen intensiven Szenen passt es, dass [5][Piero di Cosimos „Die | |
Jagd]“, wie man aus dem Abendzettel erfahren kann, eine weitere Bezugs- und | |
Inspirationsquelle dieser Arbeit bildet. In den Jahren 1485 bis 1500 | |
entstanden, zeigt das Renaissance-Gemälde, das einer Serie von Szenen aus | |
der Urgeschichte der Menschheit entstammt, ein wildes Durcheinander, eine | |
fast unübersichtliche Gleichzeitigkeit an Interaktionen zwischen Tieren, | |
Figuren und Kreaturen. Es zeigt Jagd und damit Unterwerfung, Tiertötung und | |
Ausweidung, es zeigt das Verhältnis von Mensch und Tier, meint Gewalt und | |
Beherrschung. | |
Tossi bedient sich dieser Grundmotive, fragt in ihrer hoch ästhetischen und | |
zugleich fellreich animalischen Choreografie nach den Parametern des | |
Menschseins, sucht nach Antworten. Das macht sie mal konkreter, mal | |
abstrakter, immer aber mit einem unruhigen Puls und einem so entstehenden | |
großen verführerischen Sog, der Raum und Zeit vergessen lässt. | |
Nährend, wiegend, jagend, lauernd, verzweifelnd, tötend – die starken und | |
virtuosen Protagonistinnen sind alles zugleich und das im unberechenbaren | |
Wechsel. Sie sind Chimären und Mütter, Splatter-Heldinnen und Cyborgs, | |
Jägerinnen und Gejagte, sind wild gewordene Kannibalinnen und stolze | |
Peter-Lindbergh-Schönheiten. | |
Und wenn alle sechs Tänzerinnen am Ende des Stücks sich in einer Art | |
schleimiger Ursuppe suhlen, wenn sie als ein sich selbst ermächtigender | |
Körper-Monolith, als ein ineinandergreifendes, kollektives Körper-Gebilde | |
dem warmen Licht entgegen und aus Raum und Zeit herausgleiten, sind sie | |
erschreckend schnell wieder da. Als unheimliche Projektionen auf den | |
Seitenwänden. Wartend. Warnend. Wiederkehrend. | |
11 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] http://www.medientheorie.com/doc/haraway_manifesto.pdf | |
[2] https://ursinatossi.hotglue.me/ | |
[3] /Hamburger-Performance-Blue-Moon/!5539512 | |
[4] /Tanzperformance-in-Hamburg/!5627094 | |
[5] https://www.metmuseum.org/de/art/collection/search/437283 | |
## AUTOREN | |
Katrin Ullmann | |
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