| # taz.de -- Tanzperformance in Hamburg: Auferstanden aus der Asche | |
| > In „Witches“ beschäftigt sich Ursina Tossi mit widerständigen Körpern … | |
| > ein rasant feministischer Hexentanz in eine andere Zukunft. | |
| Bild: Symbol für die Hexenverbrennungen: Fünf Tänzerinnen auf einem Aschehau… | |
| Hamburg taz | Ein Aschehaufen liegt in der Mitte der Bühne, sauber | |
| zusammengefegt zu einem Kreis: offenkundig ein Symbol für all die | |
| Scheiterhaufen, auf denen Frauen als Hexen verbrannt wurden. An seinem Rand | |
| versammeln sich fünf von ihnen, bilden einen Zirkel und beginnen ein | |
| Ritual: eine merkwürdige Mischung aus autogener Entspannungsübung und | |
| Beschwörung einer Erhitzung. | |
| Langsam zählt [1][Ursina Tossi] – Choreografin des Stückes „Witches“, m… | |
| dem am Donnerstag [2][Kampnagel] die Spielzeit eröffnete – bis zehn. | |
| Schließt eure Augen, fordert sie auch das auf dem Boden sitzende und | |
| liegende Publikum auf: Atmet den Geruch verbrannter Haare ein; spürt, wie | |
| die Hitze in euch emporsteigt; stellt euch vor, wie sie den Wald in Brand | |
| setzt und die Flüsse austrocknet; aber auch, wie die globale Atmosphäre | |
| durch die gegenwärtige Faschisierung immer weiter erhitzt wird. Bei zehn | |
| seid ihr in der Zukunft angekommen. | |
| Dort wird erst mal bitterlich geweint und geschluchzt, getrauert um die | |
| zerstörten Körper der Vergangenheit. Dann, allmählich und faszinierend | |
| nuancenreich, verwandelt sich das Zittern der schluchzenden Frauen wieder | |
| in ein Ritual: Es wird gehext, Zauberkraft durchzuckt die Körper. Oder ist | |
| es eher eine Geheimsprache? Tai-Chi? Schritt für Schritt, Geste für Geste | |
| gewinnt der Hexentanz Tempo und Furor. | |
| Mit „Witches“ setzt die studierte Philosophin Tossi ihre Auseinandersetzung | |
| mit dem Körper als Ausgangs- und Anknüpfungspunkt widerständigen Handelns | |
| fort. Mit „Resisting Bodies“ und „[3][Bare Bodies]“ hat sie sich | |
| beschäftigt, hat sich im vergangenen Jahr in „[4][Blue Moon]“ spektakulär | |
| einer der Hexe verwandten Figur gewidmet: der Werwölfin. | |
| Tossis Interesse an diesen Figuren ist politisch: ein | |
| radikal-feministischer Blick auf die historische Disziplinierung, die | |
| Zurichtung und Zerstörung der Körper von Frauen und Kolonisierten. Und ein | |
| Versuch, in diesen Figuren einen Rest zu entdecken, der sich dieser | |
| Gewaltgeschichte entzieht: als Substrat für Utopien und widerständige | |
| Kollektivität. | |
| Hintergrund sind die [5][Thesen der feministischen Wissenschaftlerin und | |
| Aktivistin Silvia Federici], die die Geschichte der Hexenverfolgung vor | |
| fünfzehn Jahren mit der [6][Entstehung des Kapitalismus] zusammengeführt | |
| hat: Den weiblichen (und andere kolonisierte) Körper und deren Sexualität | |
| zu kontrollieren, das Rebellische zu züchtigen, ihre Potenziale auf die | |
| reproduktive Funktion zu reduzieren und alles Undisziplinierbare an ihnen | |
| zu vernichten – das war für Federici wesentliche Voraussetzung für die | |
| Entstehung von patriarchalem Kapitalismus, Arbeitsdisziplin und | |
| organisierter Ausbeutung. | |
| Um die Geschichte der Hexenverfolgung oder überhaupt Geschichten im Sinne | |
| einer linearen Erzählung geht es Tossi und ihren vier allesamt eigenwillig | |
| und stark auftretenden Mitperformerinnen dabei nicht, sondern eher um eine | |
| Studie kollektiver Verlaufsformen körperlicher Zustände. | |
| Eine gute Stunde lang feiern Tossi und ihr Hexenzirkel die | |
| Wandlungsfähigkeit der Figur, zeigen mit einer minutiös ausbuchstabierten | |
| Körpersprache, wie sich sie sich immer wieder Versuchen einer | |
| Vereindeutigung entzieht. Es geht, wie könnte es bei einem Hexentanz auch | |
| anders sein, um Verwandlungen, Verzauberungen und Beschwörungen. | |
| ## Hexen-Klischees | |
| All das lässt sich als großes Ritual lesen. Wie schon in „Blue Moon“ nimmt | |
| Tossi dabei immer wieder auch Bezug auf den popkulturellen Widerhall der | |
| Hexenfigur. Da tanzen die Hexen etwa eine ganz eigene Form von | |
| [7][Krumping], diesem in der afroamerikanischen Hip-Hop-Szene im Süden von | |
| Los Angeles entstandenen aggressiv auftretenden [8][Freestyle-Straßentanz]. | |
| Aber auch klassische Horror- und Fantasy-Klischees von Hexen werden in den | |
| Strudel der permanenten Transformation gezogen: Mal wähnt man sich auf dem | |
| Blocksberg beim Hexenreigen, mal wird lasziv gestöhnt und geächzt, dann | |
| kriecht ein spuckendes Kollektivwesen auf die Zuschauer*innen zu, fauchend | |
| und kichernd. | |
| Irgendwann drehen die Hexen den Spieß um und verhören von weißen Podesten | |
| aus das Publikum: Wie heißt du, wo kommst du her? Warst du unzüchtig? Wie | |
| genau war das? Ist der Teufel behaart? Hast du abgetrieben? Hast du dich an | |
| der Zerstörung der Kernfamilie beteiligt? | |
| Schließlich schließt sich der Kreis: Die im Ritual zu Beginn anklingende | |
| Erhitzung und ihr Bezug auf den Wandel von Klima und politischer Atmosphäre | |
| wird konkret: Die Hexen streifen ihre Kleider ab, tanzen nackt, immer | |
| befreiter wird ihr Lachen. Dann stellen sie Ventilatoren rings um den | |
| Aschekreis, lassen die grauen Flocken durch die Luft fliegen, machen | |
| Wetter. | |
| Und eine von ihnen, die Peruanerin Amanda Romero, spricht leise und | |
| eindringlich auf Spanisch über Frauen, die ganz gegenwärtig mit Flammen | |
| kämpfen: Indigene im Amazonas-Regenwald. Frauen seien es, die einen ganz | |
| anderen Umgang mit der Natur hätten als die kapitalistische Ausbeutung – | |
| wie einst jene Frauen, die als Hexen verbrannt wurden. | |
| 27 Sep 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Robert Matthies | |
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