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# taz.de -- Späte Rehabilitierung: Hexenhatz
> Mehrere Initiativen in Norddeutschland wollen eine Rehabilitierung
> verurteilter vermeintlicher Hexen erreichen. Mal bremst die Kirche, mal
> die Politik.
Bild: Folter, Mord und Feuer: Die Hexenverfolgung in Norddeutschland hat die Il…
Wenn widerlegte Theorien sich hartnäckig halten, gewinnen sie selbst
dokumentarischen Wert: Sie gehören zur Signatur ihrer Epoche. Und weil ihre
Resistenz gegen Widerlegung prinzipiell bedeutet, dass der Irrtum immer neu
aufbrechen kann, ist es sinnvoll, das Verhältnis der Gegenwart zu ihnen zu
klären. So lässt sich das Anliegen der Hexen-Rehabilitierung beschreiben,
einer wachsenden und nicht an Parteigrenzen ausgerichteten politischen
Dynamik, die aktuell in Norddeutschland Raum greift, in Hamburg, Schleswig,
Osnabrück – und auch in Loccum.
Denn das Phänomen des Hexenwahns ist ein solcher Irrtum: Das Mittelalter
hatte die Vorstellung, mittels Magie auf einem Besen durch die Lüfte zu
reisen, als Aberglauben abgetan.
## Thinktanks des Wahnsinns
Für Menschen der Renaissance ist sie Realität. In der frühen Neuzeit, als
der Humanismus blüht und Descartes denkt, dass er ist, kostet das in Europa
etwa 60.000 Frauen, Männern und Kindern das Leben. Und während manche Orte
Norddeutschlands sich als fast immun gegen den Wahn erweisen wie Emden, hat
er Hochburgen im Holsteinischen oder, mit 2.000 Todesurteilen, in
Mecklenburg, und Thinktanks an den Universitäten von Rinteln und Helmstedt.
Auch in Loccum am Steinhuder Meer sterben 33 Menschen, durchs Richtschwert
und auf dem Scheiterhaufen. Vergangenen Sommer klopfen daher
Hexen-Rehabilitierer anlässlich der 850-Jahr-Feier an. Das Tor des Klosters
der evangelischen Landeskirche Hannover finden sie zwar offen, aber mit dem
Herzen, nee, das will noch nicht so recht: „Rehabilitierung ist Quatsch!“,
kanzelt Abt Horst Hirschler sie ab. Zuständig sei „nicht die Kirche,
sondern der Staat“. Das ist höchstens halb richtig. Denn klar war die
Hexenhatz Angelegenheit weltlicher Gerichte. Die verfolgten das
Superverbrechen nach der Strafrechtsordnung von Kaiser Karl V.
## Im Namen des Heiligen Abts
Aber die Kirche, die heute nur noch moralische Autorität beansprucht, hatte
in Loccum auch die weltliche Justiz inne, und ihr Gerichtshof urteilte im
Namen des „hoch und woll ehrwürdigen H[eiligen] Abts“. So steht’s in der
rechtshistorischen Dissertation von Peter Beer. Heißt: Herrn Hirschlers
Vorgänger waren qua Amt die obersten Richter – auch wenn sie den Job gern
den Dorfvorstehern übertrugen. „Mich“, sagt jedenfalls Hartmut Hegeler,
„hat diese Abfuhr einigermaßen erschüttert.“ Es gehe doch darum, dass die…
Menschen „im Namen von meinem Herrn Jesus gefoltert und getötet wurden“,
und dass „meine Kirche dabei mitgewirkt hat“.
Hegeler, in Bremen geboren, lebt als Pastor im Ruhestand in Unna. Von dort
aus betreibt er ein Netzwerk zur Rehabilitierung vermeintlicher Hexen. Er
berät die Leute in Schleswig, wo ein Stadtverordneter der Freien Wähler die
Sache im Rat anspricht. Er war in Kontakt mit den Osnabrückern, wo ein
FDP-Ratsherr das Thema vorantreibt. Anderswo ist es Die Linke. „Wenn das
ein Ratsangehöriger einbringt“, sagt Hegeler, „hat das mehr Aussicht auf
Erfolg.“ Ortsfremde würden eher ignoriert. So etwas wie in Loccum habe er
aber noch nicht erlebt. „Ich hätte nie gedacht, welche Emotionen das noch
weckt“, sagt er.
Die Emotionalität gehört aber seit jeher zum Thema. Sie ist Teil seiner
Popularität – so wie ja auch die Hexenhatz eine ausgesprochen emotionale
und populäre Angelegenheit war: „Dass Hexen verbrannt wurden“, so der
bedeutende Hexen-Forscher Wolfgang Behringer zur taz, „war ein
demokratisches Verlangen.“ Aus dem Gedankengebäude des kollektiven Wahns
auszubrechen, glückt damals nur wenigen. Und gerade dieser Charakter
scheint das Thema anfällig gemacht zu haben für problematische
Denkbewegungen – angesichts derer Skepsis nachvollziehbar ist.
## Die Erdichtung der weisen Frauen
Sie tut der jetzigen Rehabilitierungswelle aber unrecht: Der geht es um
eine Klarstellung eines heutigen Bewusstseins, um eine Anerkenntnis
institutioneller Verantwortung. Das ist ein Gegensatz zu den
problematischen Hexenwahn-Theorien. Die ähneln einander darin, dass sie
allesamt das Kollektiv entlasten und so die politische Indienstnahme der
Ermordeten ermöglichen. So lassen die Brüder Grimm die Hexen in Deutschland
als „weise Frauen“ zum höheren Ruhme des Volkes brennen und der
französische Historiker Jules Michelet für den laizistischen Nationalstaat.
Später opfern Mathilde Ludendorff, Heinrich Himmler und Alfred Rosenberg
sie Wotan, dem Führer und der Rassenreinheit. Und der Mörder ist immer der
Pastor.
In diese Kerbe hatten vor exakt 30 Jahren auch die Bremer Professoren Otto
Steiger und Gunnar Heinsohn geschlagen. Heinsohn ist ja jetzt mehr so in
der Neurechten-Szene unterwegs. Damals fühlte er sich im März-Verlag
richtig: Im Verlags-Almanach, dessen diskursive Beiträge wirken wie eine
Sammlung linksdrehender New-Age-Strömungen, sehr tazzig und früh-grün –
veröffentlichen die beiden Hochschullehrer als Appetizer fürs gleichnamige
Buch den Aufsatz „Die Vernichtung der weisen Frauen“. Kern: Die Behauptung,
„daß die Hexenmassaker dem politischen Entschluß zuzuschreiben“ wären, �…
alte Volkswissen über Geburtenkontrolle auszurotten“. Der Massenmord,
genauer die „Ausrottung der Hebammen/Hexen“, soll das Bevölkerungswachstum
ankurbeln – auf Geheiß des Papstes.
Ihn habe damals „vor allem das Rätsel der Europäischen
Bevölkerungsexplosion ab Ende des 15. Jahrhunderts interessiert“, teilt
Heinsohn auf Nachfrage mit. „Für seine Lösung lieferte mir dann eine
Facette der Hexenverfolgung wiederum lediglich eine Facette der Lösung“.
Naja, eher ’ne Schimäre. Denn um etwas zu erklären, müssten die Fakten zur
These passen. Tun sie aber nicht: Die angeblich ausgerotteten Hebammen sind
keine bedeutende Opfergruppe. Dort wo die Prozessakten auf „weise Frauen“
durchkämmt wurden, liegt ihr Anteil unter 0,4 Prozent!
Rückblickend ist erstaunlich, wie lange sich diese wissenschaftlich schnell
erledigte Fiktion in der öffentlichen Meinung hat halten und verbreiten
können. Die Zeit erklärt viel: Das Buch erscheint mitten im Kampf für eine
straflose Abtreibung, Esoterik ist große Mode. Manche feiern das Buch
gerade wegen seiner wüsten Zahlenanhäufungen wie eine frohe Botschaft: „Wir
haben mal eine Auflistung aller herumgeisternden Zahlen versucht“,
beschreibt das Heinsohn ganz treffend. Sie kritisch zu prüfen, wäre fast
schon Forschung gewesen.
Den Stadtrat von Rehburg-Loccum gibt es seit exakt 40 Jahren. Hexenprozesse
hat er garantiert keine beschlossen. Aber als im September die Grünen dort
die sozialethische Rehabilitierung der Loccumer Opfer beantragten, war den
Ratsleuten klar, worum es ging. Sie haben also das historische Unrecht als
solches anerkannt, um was hätte es auch sonst gehen sollen? Und sie haben
es auch bedauert. Einstimmig. Und es tat gar nicht weh.
7 Mar 2014
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
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