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# taz.de -- Hamburger Performance „Blue Moon“: Rebellierendes Rudel
> In „Blue Moon“ spielt die Hamburger Choreografin Ursina Tossi
> ausdrücklich feministisch mit der ambivalenten Gestalt der Werwölfin.
Bild: Maul aufreißen, Zähne zeigen: Diese Werwölfinnen lassen sich nicht zü…
Hamburg taz | Schwere Eisenketten hängen auf den Boden herab; Tierfelle,
Knochen – und Strumpfhosen, lang gedehnt, weil sich in ihnen menschliche
Körperteile befinden: Ohren oder Hände in einer blutigen Flüssigkeit.
Unheilvolles Dröhnen in der Luft, Nebelschwaden auf dem Boden, darin liegen
sie: fünf Fellwesen, die allmählich erwachen und beginnen, sich auf allen
vieren durch den Raum zu bewegen.
Ungestalt wirken ihre Bewegungen noch, als wüssten sie ihren Körper und die
in ihm steckenden Kräfte nicht richtig zu nutzen und zu kontrollieren. Es
ist ein laszives Zur-Welt-Kommen, ein aggressiv-lustvolles
Sich-Selbst-Entdecken: Fauchend umkriechen sie einander, riechen
aneinander, verbeißen sich ineinander. Dann verwandelt sich das Fauchen in
ein atemloses Stöhnen, transformieren sich die Bewegungen in
masturbatorische und koitale Posen. Immer aggressiver wirkt das, immer
animalischer und wilder.
In ein Rudel Werwölfinnen verwandeln sich die fünf Performerinnen im Stück
„Blue Moon“ der Hamburger Choreografin und Tänzerin Ursina Tossi, das am
Mittwoch auf Kampnagel Premiere feierte und diesen Samstag noch einmal zu
sehen ist. Und wie schon in ihren letzten beiden Stücken, „Resisting
Bodies“ und „Bare Bodies“, erzählt Tossi an diesem Abend nicht einfach e…
Werwölfinnengeschichte, sondern zeigt eben: Verwandlungen, Verlaufsformen
körperlicher Zustände, die Zu- und Entschreibung von Körperbildern – von
Gestalten und Ungestalten in Gestalt der ambivalenten Figur der
(Raub-)Tierwandlerin.
Auch diesmal ist Tossis Interesse ausdrücklich politisch. Ausgangspunkt ist
ein feministischer Blick auf die historische Disziplinierung, Zurichtung
und Zerstörung weiblicher Körper und den Widerhall der eben auch auf
Scheiterhaufen und in Folterkellern entwickelten Frauenkörperbilder in
popkulturellen Genres wie Horror, Fantasy oder Science-Fiction.
Hintergrund sind unverkennbar Silvia Federicis viel beachtete Thesen zur
Enteignung und Ausbeutung weiblicher und kolonialisierter Körper. In ihrem
Buch „Caliban und die Hexe: Frauen, der Körper und die ursprüngliche
Akkumulation“ führte die Radikalfeministin vor vierzehn Jahren die
Geschichte der Hexenverfolgung mit der Entstehung des Kapitalismus
zusammen.
## Kontrollierte Körper
Federicis zentrale These: Die Kontrolle über den weiblichen Körper und die
weibliche Sexualität, die Reduktion auf ihre reproduktive Funktion und die
Züchtigung ihres rebellischen Körpers sind wesentliche Voraussetzung für
Entwicklung des Kapitalismus, für die Arbeitsdisziplin ebenso wie für die
Reproduktion der Arbeiter*innenklasse. Brutalster Ausdruck dieser
Vertiefung der Geschlechterverhältnisse waren die Verfolgung von Hexen und
eben auch – selten zwar – Werwölfinnen als Symbol für eine aggressive,
nicht zu bändigende Sexualität: ein Angriff auf den Widerstand von Frauen
gegen die Ausbreitung kapitalistischer Verhältnisse, resümiert Federici.
Und so zelebriert Tossis Werwölfinnen-Rudel eine gute Stunde lang die
Wandlungsfähigkeit und Selbstbehauptung einer Figur, die sich der
Vereindeutigung immer wieder entzieht. Durch alle Transformationen hindurch
bleibt sie – das buchstabiert die Körpersprache präzise aus – in der
Schwebe: weder Tier noch Mensch, weder Wildnis noch Zivilisation, weder
Natur noch Kultur und oft auch: weder eindeutig Frau noch Mann.
Immer wieder beziehen sich Szenen auf Märchen oder Filme: Absurd komisch
ist die Verwandlungsszene aus „American Werewolf“ als
Corps-de-ballet-Reenactment. In einer anderen Szene sind die Performerinnen
ein kollektives Zwitterwesen aus Rotkäppchen und dem Wolf, Täter und Opfer
des Grimm’schen Vergewaltigungsmärchens zugleich: Geh nicht in den Wald,
raunen sie, zischen: Was hast du unter deiner Schürze? Bald läuft das Rudel
in seinen Fellmänteln im Catwalk, später streifen die Werwölfinnen ihre
Mäntel ab, gebärden sich zu stampfendem Beat wie eine Meute von Hooligans
auf der Suche nach Opfern, beschmieren sich mit Kunstblut und gehen
bedrohlich aufs Publikum zu: Ich habe Hunger!
Am Ende dann ein utopischer Ausblick: ein merkwürdiges Kollektivwesen, ein
Fellknäuel, aus dem nur hier und da mal eine Hand ragt. Und schließlich nur
noch diabolisches Lachen.
19 Oct 2018
## AUTOREN
Robert Matthies
## TAGS
Feminismus
Kampnagel
Tanz
Cyborg
Held
Hexen
Papst Franziskus
Luft und Liebe
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