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# taz.de -- Protestbewegung in Chile: Von der Schule in den Knast
> Mehr als 2.500 Chilen*innen sitzen wegen der andauernden Proteste in
> Untersuchungshaft. Viele davon sind Kinder und Jugendliche.
Bild: Hat eine eindeutige Meinung von Chiles Polizei: Demonstrierende in Santia…
Santiago taz | Der 18-jährige Gabriel R. verbringt seine Schulferien dieses
Jahr im Gefängnis. Letztes Jahr am 12. November wurde er bei einem Protest
festgenommen und befindet sich seitdem in der Haftanstalt für Erwachsene
Santiago 1.
Ende Januar haben sich seine Familie und Freunde in einem Gerichtssaal in
Chiles Hauptstadt Santiago zur Anhörung zusammengefunden. „Hoffentlich darf
ich meinen Gabriel heute mit nach Hause nehmen“, sagt seine Mutter Carolina
Jaque. Ihre Gesichtszüge verhärten sich, als ihr Sohn von zwei Wachmännern
in den Gerichtsaal geführt wird. Er trägt eine gelbe Weste mit der
Aufschrift „imputado“ – Angeklagter. Er lächelt seiner Familie zu, ein
kleiner Funken Hoffnung schimmert in seinen Augen.
Gabriel R. ist eine von laut Staatsanwaltschaft über 2.500 Personen, die
sich seit Beginn des [1][Aufstands] am 18. Oktober 2019 in
Untersuchungshaft befinden. Festgenommen wurden bis Ende November über
35.000, gegen mehr als 23.000 wurde Anklage erhoben. Aktuelle Zahlen sind
nicht bekannt. Zu den Straftaten gehören Störung der öffentlichen Ordnung,
Brandstiftung, Tragen von Waffen und Plünderungen.
Die meisten Angeklagten können den Untersuchungszeitraum im Hausarrest
abwarten. Das will auch Gabriels Anwalt Nicolás Toro heute erreichen. Dem
18-jährigen Schüler wird vorgeworfen, einen Molotowcocktail auf ein
Polizeifahrzeug geworfen zu haben. „Der Angeklagte ist ein
verantwortungsbewusster junger Mann. Er ist Pfadfinder, engagiert sich in
der Nachbarschaft und will dieses Jahr die Schule abschließen, um danach zu
studieren“, sagt Toro bei der Anhörung zur Verteidigung seines Mandanten.
Die Staatsanwältin ist anderer Meinung, sie argumentiert, dass „seine
Freiheit eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt“. Mindestens drei Jahre
Gefängnisstrafe drohen Gabriel R. Nach weniger als 20 Minuten ist die
Anhörung vorbei. Der Richter entscheidet, dass der Angeklagte in
Untersuchungshaft bleiben muss. Gabriel wirft seiner Familie ein Luftkuss
zu, bevor er abgeführt wird.
„Mein Sohn ist keine Gefahr für die Gesellschaft. Ganz im Gegenteil. Er war
beim Protest, um für alle Chilen*innen zu kämpfen“, sagt seine Mutter
Carolina Jaque. Viele Freund*innen von Gabriel R. sind zur Anhörung
gekommen und umarmen seine Mutter. Einer von ihnen, ein Kindergartenfreund,
der seinen Namen für sich behalten will, sagt: „Wir jungen Menschen haben
die Augen aufgemacht und wollen, dass sich etwas verändert in Chile. Mit
Gabriel kämpfen wir seit Jahren für ein gerechteres Bildungssystem. Er will
Sportlehrer werden. Aber was sie jetzt mit ihm machen, wird ihm einen
lebenslangen Schaden zufügen.“
Gabriels Anwalt kennt das Prozedere. „Wir haben schon mehrmals erreicht,
dass die Richter die Untersuchungshaft in Hausarrest umwandeln. Aber jedes
Mal legt das Innenministerium Berufung ein, um die Jugendlichen in Haft zu
behalten. Vor dem 18. Oktober wäre das nicht passiert“, sagt er. „Bei
manchen Fällen wird sogar das Nationale Sicherheitsgesetz angewandt, das
darauf abzielt, soziale Bewegungen zu unterdrücken. Deshalb sprechen wir
von politischen Gefangenen.“
## Das Nationale Sicherheitsgesetz – Relikt der Diktatoren
Das Nationale Sicherheitsgesetz hat seinen Ursprung im Jahr 1958, als
Diktator Carlos Ibáñez del Campo es nutzte, um politische Gegner*innen –
hauptsächlich Mitglieder der Kommunistischen Partei – zu inhaftieren. Auch
Augusto Pinochet wandte das Gesetz während der Diktatur von 1973 bis 1990
an, um Regimegegner*innen zu verfolgen. Seither wurde es vor allem gegen
Aktivist*innen des indigenen Volks der Mapuche eingesetzt.
Mehrere Schüler*innen, die die Proteste seit dem 18. Oktober anführen,
wurden auf der Grundlage dieses Gesetzes angeklagt, auch ein Mathelehrer,
der ein Drehkreuz in einer Metro-Station zerschlagen hatte.
Die von Anwält*innen, Angehörigen und Freiwilligen gegründete
Gefangenenhilfsorganisation Coordinadora por la Libertad de los Prisioneros
Políticos 18 de Octubre begleitet momentan 70 Fälle in der Hauptstadt
Santiago, bei 11 davon handelt es sich um Minderjährige. Im ganzen Land
befänden sich 155 Minderjährige wegen der Proteste in Haft, so Zahlen der
Organisation.
„Es gibt keine fairen Gerichtsverfahren. Die Richter*innen und
Pflichtverteidiger*innen erfüllen nicht ihre Funktion, denn sie handeln
unter politischem Einfluss“, sagt Javiera del Campo. Sie begleitet Fälle
von Minderjährigen, die bei Protesten festgenommen wurden. „So sollen
Kinder und Jugendliche eingeschüchtert werden, die ihre Stimme erheben.“
Einer der Minderjährigen ist der 17-jährige Damian T. Er wurde am 21.
Oktober festgenommen. „Er war kein Aktivist, er hat vorher noch nie an
Protesten teilgenommen“, sagt seine Mutter Cristina Navarrete. „Aber es
gibt so viel [2][Ungerechtigkeit] hier im Land und er ist Teil der
Generation, die das ändern will.“ Damian T. wird vorgeworfen, einen
Molotowcocktail auf einen Polizisten geworfen zu haben. Verletzt wurde
niemand.
Nach drei Wochen Untersuchungshaft entschied ein Richter, dass er den
60-tägigen Untersuchungszeitraum im Hausarrest verbringen dürfe. Kurz vor
Weihnachten kam dann ein Brief: Die Staatsanwaltschaft hatte Berufung gegen
die Entscheidung des Richters eingelegt, weil Damian T. eine Gefahr für die
Gesellschaft darstelle. Einen Tag vor Silvester musste Damian zurück ins
Gefängnis.
Die Jugendgefängnisse in Chile werden gemeinsam mit den Kinder- und
Jugendheimen vom Sename verwaltet, der Behörde für Minderjährige. Die Heime
stehen seit Jahren in der Kritik, weil dort immer wieder Kinder missbraucht
und misshandelt werden. Eine Untersuchungskommission der Vereinten Nationen
kam 2016 zum Ergebnis, dass in den Sename-Heimen die Menschenrechte der
Kinder systematisch verletzt werden.
Kein Wunder, dass sich Damians Mutter Sorgen um ihren Sohn macht, der in
einem Sename-Gefängnis einsitzt. Zwei Mal in der Woche darf sie ihn
besuchen. „Er ist da mit anderen Jungen, die jemanden ermordet oder
ausgeraubt haben. Mein Sohn ist ein guter Mensch, er hat keine Vorstrafen
und er hat nicht aus Eigennutz gehandelt, sondern weil er sich für eine
gerechtere Gesellschaft einsetzt“, sagt sie. „Er hat mir erzählt, dass eine
Gruppe von Jungen zur Strafe zwei Stunden lang in einer Zelle ohne Licht
eingeschlossen wurde. Sie sind durchgedreht, haben geschrien und die Möbel
zerschlagen. Dann kamen die Wächter und haben sie verprügelt.“
## „Unsere Kinder brauchen diesen Raum zum Träumen“
Damian sei künstlerisch begabt, zeichne gerne und interessiere sich für
Musik und Filme, sagt seine Mutter. Er würde gerne Film studieren. Aber das
ist einer der teuersten Studiengänge in Chile, mit Studiengebühren zwischen
5.000 und 10.000 Euro im Jahr. Damians Mutter ist alleinerziehend, hat im
Moment keinen festen Job und überhaupt keine Chance, ihrem Sohn ein Studium
zu finanzieren.
„Alles ist teuer in Chile. Deshalb war Damian frustriert und hatte
Depressionen. Unsere Kinder brauchen diese Protestbewegung, diesen Raum zum
Träumen, die Hoffnung, dass sich etwas ändern kann“, meint sie.
Viele gehen davon aus, dass die Proteste im März einen neuen Höhepunkt
erreichen werden, wenn das neue Schuljahr und Universitätssemester losgeht.
Die Regierung hat die Sommerferien genutzt, um neue Gesetze zu
verabschieden: das Antibarrikaden-, das Antivermummungs- und das
Antiplünderungen-Gesetz. Die Gefängnisse werden sich in den nächsten
Monaten vermutlich noch weiter füllen.
„Die Politiker*innen haben noch nie die Sorgen der Menschen erhört. Jetzt
wollen sie, dass wir uns dafür entschuldigen, dass wir unsere Rechte
einfordern? Dafür, dass wir wütend sind, dass die Reichen alles haben und
wir nichts? Dann müssen sie uns alle ins Gefängnis stecken“, sagt die
Mutter von Damian R.
22 Feb 2020
## LINKS
[1] /2019--Jahr-der-Proteste/!5644252
[2] /Massenproteste-in-Chile/!5656391
## AUTOREN
Sophia Boddenberg
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