# taz.de -- Massenproteste in Chile: 30 Pesos, 30 Jahre | |
> Seit Monaten wird in Santiago de Chile protestiert. Die Reichen im Norden | |
> der Stadt verstehen nicht, warum. Die Ungleichheit hat doch abgenommen? | |
Bild: November 2019: Demonstranten schützen sich hinter einer Plakatwand vor d… | |
Draußen, auf den Straßen, sieht es aus wie immer: Rucksäcke, Kopfhörer. | |
Ein angeleinter Hund. Gehst du aber raus, musst du husten: weil über | |
Santiago Tränengas liegt. So viel – du denkst, die Haut brennt. Und guckst | |
du genauer hin, siehst du gebrochene Schultern, Krücken, Augenklappen. | |
Am 18. Oktober wurden die Fahrscheine für die Metro in Santiago um 30 Pesos | |
teurer. Zwei Cent sind das. Statt 1,13 Dollar jetzt 1,15 Dollar. Und in | |
Chile bricht der Aufstand aus. Das Zentrum von Santiago, der Stadt, wo 40 | |
Prozent der Chilenen wohnen, 7 Millionen von 19 Millionen, ist jetzt nur | |
noch Schutt, Schlick, zerbrochenes Glas. | |
Es ist Mitte Dezember, am Plaza Italia ist alles zu. Geschlossen und | |
verriegelt. Einzig Schweißer arbeiten, bringen Rollläden an, schrauben | |
Stahlplatten vor die Hotels und Läden. Stacheldraht rollen sie aus. Wie in | |
Bagdad. Und dann setzt du dich einen Moment, und was aussieht wie eine | |
Bank, ist ein umgestürzter Pfahl. Was aussieht wie eine rote Ampel, ist das | |
Rot eines Feuers. Denn der Kampf wütet weiter. Tausende junger Leute mit | |
Steinschleudern gegen schwer ausgerüstete Polizisten. Sie sind in ihren | |
Zwanzigern, Dreißigern und sie haben keine Angst, weil sie Pinochet nicht | |
erlebt haben. Mit Fahrradhelmen, Tauchermasken trotzen sie Geschossen. | |
Und plötzlich bist du da, wo es Steine regnet und Stockschläge, verkriechst | |
dich hinter einem Schutzschild, der mal eine Satellitenschüssel war, wenn | |
Wasserwerfer mit Ätznatron vermischtes Wasser wuchtig raushauen. Ein Mann | |
neben dir hört nicht auf, von Marx zu reden, und ein anderer trinkt | |
seelenruhig seine Cola weiter. Es kann aber auch sein, dass du auf dem | |
Boden liegst, zusammengeschlagen und weggehievt auf einen Polizeilastwagen. | |
Wer du halt gerade bist. | |
## Das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Südamerika | |
[1][Die Proteste sind die größten, die Chile erlebt], seit es wieder eine | |
Demokratie ist. Wie in Beirut, wie in Paris, in Hongkong ist es nicht | |
leicht zu verstehen, was die Protestierenden genau wollen. Und was ihr Plan | |
ist. Für Rolf Lüders dagegen ist alles klar: [2][Sie protestieren], weil | |
sie einem Irrglauben aufsitzen. Sie protestieren, weil sie nicht kapieren, | |
dass sie reich sind. | |
Rolf Lüders, 85, kennt das heutige Chile genau. Er ist einer seiner | |
Vordenker. Finanzminister unter Pinochet, einer der Chicago Boys – | |
Studenten des seeligen Ökonomomieprofessors Milton Friedman. Die haben | |
Chile in den 1970er Jahren zum Testlabor für seine Theorien gemacht, daran | |
glaubend, dass der Markt alles von selbst regelt. Und dass er sich am | |
besten entwickelt ohne staatliche Eingriffe. | |
Ein halbes Jahrhundert später macht Rolf Lüders in seinem Büro in der | |
Katholischen Universität noch die gleiche gute Figur. Und hat die gleichen | |
Ideen. Weil die Statistiken, sagt er, jeden Zweifel ausräumen. „Wir sind | |
die Besten.“ Chile hat ein Pro-Kopf-Einkommen von 25.798 Dollar. Das | |
höchste in Südamerika. In den letzten Jahren sei nicht nur die Armut | |
zurückgegangen, sagt er, auch die Ungleichheit. | |
Was draußen passiere, habe nichts mit Ökonomie zu tun, sagt er. „Das | |
Einkommen der ärmsten 10 Prozent der Bevölkerung ist um 145 Prozent | |
gestiegen. Von 20.000 auf 50.000 Pesos. Während das Einkommen der reichsten | |
10 Prozent des Landes zwischen 2000 und 2015 nur um 30 Prozent zunahm. Das | |
bedeutet: Die Ungleichheit ist geringer geworden.“ | |
Aber, sagst du, das Einkommen der Reichsten stieg von 800.000 auf eine | |
Million. „Das ist der Fehler“, sagt er, „dass auf diese 200.000 Pesos | |
geguckt wird. Und dass gedacht wird, das ist mehr als 30.000. Wichtig ist | |
doch, dass du nicht mehr so arm bist. Dass 50.000 mehr ist als 20.000. Ich | |
meine, das ist doch eine Frage der Logik“, sagt er. „Der Mathematik.“ Er | |
sagt: „Sie verstehen mich, right?“ | |
„Das Wachstum in Chile war atemberaubend. Gerade hat es sich etwas | |
verlangsamt. Und schon gehen alle auf die Straße. Aber unsere Wirtschaft | |
funktioniert. Natürlich muss es ein paar Anpassungen geben. Das | |
Steuerregime. Das Kreditsystem. Unser Ziel war es, Wohlstand zu schaffen: | |
Und das haben wir“, sagt er. Weil Armut das Problem sei. Nicht | |
Ungleichheit. „Ungleichheit schafft Vergleichbarkeit. Und damit | |
Verbesserungen. Das ist gut. Die Linken wollen, dass alle gleich sind. Wie | |
in Kuba. Wo sie alle gleich sind: alle gleich hungrig.“ | |
Er würde alles wieder so machen. Pinochet inklusive. „1973 hinterließ | |
Allende eine Inflationsrate von 508,1 Prozent. Wir mussten Chile von null | |
wieder aufbauen. Wir brauchten einen starken Mann“, sagt er. | |
## Jetzt wird die Metro noch teurer | |
Unter Pinochet war der Gini-Index, der ein Maß für Ungleichheit ist und | |
zwischen 0 und 1 liegt, in Chile am höchsten. Er lag bei 0,57. Jetzt liegt | |
er bei 0,47. In OECD-Ländern aber liegt er um 0,3. Ungleichheit kann in der | |
Tat prozentual abnehmen und in absoluten Zahlen steigen. Es ist, als ob sie | |
gleichzeitig größer und geringer ist als zuvor. Und das ist es, was sie zur | |
Kernfrage für die Protestierenden auf dem Plaza Italia macht. | |
Aber für uns ist es auch die Kernfrage, versichern mir die Studenten der | |
Wirtschaftsfakultät. Es ist ein ziemlich eigentümlicher Ort: Die Hörsäle | |
sind hier nicht nach Wissenschaftlern benannt, sondern nach Sponsoren. | |
Unilever, Xerox. Coca-Cola. „Natürlich haben wir Ungleichheit im Fokus. | |
Weil das die menschliche Natur ist“, sagt Camilla, eine Studentin im | |
Nescafé-Saal. „Weil sie das Herz von allem ist“, sagt Valentina. „Sie | |
maximiert Produktivität.“ Die Wohlhabenden seien die Vorbilder, sagt sie. | |
Sie zeigten den Armen den Weg. „Glaubten sie, die Metro ist zu teuer? | |
Jetzt, wo sie sie in Brand gesetzt haben, wird es noch teurer.“ | |
Camilla bezieht sich auf die erste Protestnacht. Als 80 von 136 | |
Metrostationen schwer demoliert und 11 zerstört wurden. Der Schaden liegt | |
bei über 300 Millionen Dollar. „Wenn du ein Problem hast, machst du da | |
alles kaputt?“, fragt sie. | |
Die hier sprechen, sind die zukünftige Elite in Chile. Weil die Chicago | |
Boys etwas entwickelten, das später „eine geschützte Demokratie“ genannt | |
wurde: geschützt vor Menschen und ihrer Impulsivität. Eine Demokratie, die | |
stattdessen Experten in die Hände gelegt wurde. Deshalb wurde in der | |
Pinochet-Verfassung von 1980, die immer noch gilt, festgelegt, dass der | |
Präsident die Exekutive bestimmt und einen Großteil der Legislative. Der | |
Kongress hat nur eine untergeordnete Rolle. | |
Und es kommt noch etwas hinzu: Die Privatisierung der staatlichen | |
Unternehmen wurde von Julio Ponce überwacht, Pinochets Schwiegersohn. Für | |
ein Drittel seines realen Werts kaufte der die SQM – das weltmarktführende | |
Unternehmen bei der Produktion von Lithium. Der heutige Wert der Firma: 3,3 | |
Milliarden Dollar. Ponce ist unter den 1.000 reichsten Männern auf der | |
Forbes-Liste. | |
Durch die Privatisierung der Zuckerindustrie verlor der Staat 47 Millionen | |
Dollar. Durch die Privatisierung der Stahlindustrie 160 Millionen. Durch | |
die Privatisierung der Energieindustrie eine Milliarde. | |
Und ja, diese Minister sind gewöhnlich auch die Dozenten an der Uni. Und | |
ja, sie sind auch Geschäftsleute, ziemlich oft in der gleichen Branche, für | |
die sie politisch zuständig sind. Das sind Daten der UN, die anmerken, dass | |
da ein Drehtüreffekt zu erkennen ist. | |
## Wo sich Reiche und Arme treffen | |
Am Eingang der Uni gibt es einen Kiosk. Zusammen verdienen die drei | |
Verkäufer 800 Dollar im Monat, und das in einer Stadt, die so teuer ist wie | |
London. Drinnen, berichte ich, werde gesagt, es gebe keine Krise. Und dass | |
es egal sei, ob es Arm und Reich gebe. Weil wir alle reicher seien als | |
gestern. „Aber sie sind nicht reich“, antworten sie, „sie sind Diebe.“ … | |
anderen sind immer: sie. Es ist auffällig. Wenn sie die Reichen meinen, | |
sagen die Armen nicht „die Reichen“, sondern: „sie“. Und die Reichen au… | |
um sich auf die Armen zu beziehen: „sie“. Als ob sie doch eine diffuse | |
Einheit wären. | |
Santiago, das sind eigentlich zwei Städte. Auf der Karte gibt es eine Art | |
Diagonale. Von Südwesten nach Nordosten. Und das Zentrum ist die Plaza | |
Italia. Da ist der Verwaltungsbezirk und zugleich in zweifacher Hinsicht | |
Endpunkt von Santiago, denn die Reichen wagen sich nicht weiter nach Süden | |
und die Armen nicht weiter nach Norden: Nur hier treffen sie sich. Deshalb | |
ist es ein Schlachtfeld. | |
Santiago beginnt unten links, wo wir übernachten, in einem Kiez mit dem | |
Spitznamen Morass, dem Königreich der Drogendealer. Bist du da gelandet, | |
kommst du nicht mehr weg. Geht man die Diagonale entlang, ändert sich die | |
Stadt langsam. Providencia, El Golf, Las Condes, Vitacura, bis nach La | |
Dehesa, bis zu den Reichsten der Reichsten: Und du kannst sehen, wie die | |
Umgebung anders wird, kannst es physisch erleben. Es wird immer weniger | |
südamerikanisch, wird immer mehr zu Mailand, Brüssel, Frankfurt. Alles aus | |
Stahl und Glas. | |
Es geht aber nicht nur um die Physiognomie der Stadt, auch die Bewohner | |
ändern sich. Irgendwann sind sie alle weiß. In El Golf ungefähr. Und das | |
ist kein Zufall. In Chile haben Leute in den angesehensten Berufen, | |
Anwälte, Ärzte, Ingenieure, europäische Namen: Edwards, Werner, Klein, | |
Lyon. Hier kommen auf das reichste Prozent der Bevölkerung 33 Prozent des | |
Bruttoinlandsprodukts. Und auf das reichste Zehntelprozent der Bevölkerung | |
19,5 Prozent. 190.000 Dollar pro Monat. Bei so einer Ungleichheit ist das | |
Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt eine bedeutungslose Zahl: Es wird durch die | |
Extreme verzerrt. Es passt zu niemandem. Und wenn man das, was man sich mit | |
diesem Einkommen in Chile leisten kann, analysiert, stellt man fest, dass | |
in dem Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt Südamerikas 76,4 | |
Prozent unter oder am Existenzminimum leben. Ihr Durchschnittseinkommen: | |
376.048 Pesos pro Monat. Keine 500 Dollar. | |
Die Krise in Chile ist die Krise der Mittelklasse. Ihr Einkommen ist zu | |
hoch für Subventionen und zu niedrig für neue Kredite. Denn alles, was man | |
hier sieht, wird auf Kredit gekauft. Wenn es nach den Chicago Boys geht, | |
ist es am besten, wenn öffentliche Güter vom Markt bereitgestellt werden: | |
Es muss nur garantiert sein, dass jeder Zugang dazu hat. Mit einigen | |
Subventionen und vielen Kreditkarten. Es gibt hier nur ein sehr minimales | |
Wohlfahrtssystem. Die Rolle des Staates wird nur darin gesehen, ein | |
unternehmensfreundliches Umfeld bereitzustellen: Firmen investieren, | |
produzieren, so entsteht Wohlstand. Gut, auf dem Papier zahlen die | |
Unternehmen Steuern, als eine Art Vorschuss. Der wird dann wieder von der | |
Steuerschuld des Unternehmens abgezogen. So kommt es, dass die | |
Körperschaftssteuer bei null liegt. | |
In Chile werden nur 10 Prozent des BIPs für Wohlfahrtsprogramme verwendet, | |
während es in OECD-Ländern im Durchschnitt 20 Prozent sind. Weil hier halt | |
alles privatisiert ist. Wirklich alles: Bildung, Gesundheit, Renten, auch | |
die Wasserversorgung. | |
## Wer sich für die öffentliche Gesundheit entscheidet, stirbt | |
Unsere Gastgeberin, Cecilia Arévalo, hat einen Bachelor in Pädagogik. Ihre | |
Studiengebühren betrugen 28.000 Dollar im Jahr. Ihre Mutter hat sich gerade | |
einer Nierenoperation unterziehen müssen. Kostenpunkt: 7.000 Dollar. „Im | |
öffentlichen Krankenhaus hätte es 2022 ein freies Bett gegeben.“ | |
Der Staat, sagt sie, biete alles, „aber wenn Sie sich für öffentliche | |
Bildung entscheiden, lernen Sie kaum, zu schreiben. Wenn Sie sich für die | |
öffentliche Gesundheit entscheiden, sterben Sie.“ Bevor die Psychologin der | |
Schule, an der sie arbeitet, nach Hause fährt, öffne sie den Kofferraum. Um | |
ihr Gehalt aufzustocken, verkaufe sie Schuhe. Hier hat jeder einen zweiten | |
Job. | |
Es ist nicht wegen der 30 Pesos. Es wegen der 30 Jahre. 30 Jahre, seit | |
Pinochet weg ist, und nichts hat sich geändert. Weil eine Verfassung im Weg | |
steht. Eine, in der von sozialen Rechten nichts steht. Und eine, die dem | |
Präsidenten die ganze Macht gibt: Sebastián Piñera. Er ist einer der fünf | |
reichsten Chilenen. | |
Zurück im Süden Santiagos: Von außen sehen die Häuser normal aus. Aber | |
eigentlich sind sie aus Spanplatten. Aus Verpackungsmaterialien. La Pintana | |
hat 178.000 Einwohner. Ein Café, ein Geschäft. Und nichts sonst. Seine | |
Straßen sind Flohmärkte. Wo die Leute alles verkaufen, was sie haben. Ein | |
Kapuzenpulli, eine Mikrowelle, eine Playstation aus der guten alten Zeit. | |
Von hier aus ist Santiago eine andere Welt. | |
## Plötzlich lebst du im Zelt, das für den Urlaub gedacht war | |
Und abends kommt dann ein Soziologe von der Plaza Italia, um in einem | |
kleinen Hinterhof unter einer Laterne Chile zu erklären und das, was daran | |
falsch ist. Und es ist wieder Allendes Chile. Da sind diese mageren | |
Jugendlichen, die dir, solltest du ihnen tagsüber in dieser Gegend | |
begegnen, wahrscheinlich Angst machen. Jetzt sitzen sie hier mit Stift und | |
Notizbuch und hören zu. Weil sie einst alle Studenten waren, die | |
Universität mussten sie abbrechen, weil sie zu teuer war. Und jetzt | |
zitieren sie Weber, Orwell, Foucault. Piketty und reichen Chips rum. Für | |
die meisten ist es das Abendessen. | |
Paulina Barria und ihr Freund sind 21 und 24. Sie leben in einem Erdloch am | |
Straßenrand. Obwohl sie wie du aussehen. Mit ihren Nike-Sneakern. Ihren | |
Tattoos. Sie hat eine Missbrauchsgeschichte und will nicht nach Hause, er | |
ist Elektriker und hat sich an der Hand verletzt: Man verliert seinen Job | |
hier und dann sein Haus. „Weil du allein bist“, sagt sie. „Und ohne | |
Sicherheitsnetz. In Chile geht es einem nur so lange gut, wie es einem gut | |
geht“, sagt sie. Weil man so wenig verdient, dass man immer auf der Kippe | |
steht. Und in der ersten Not findet man sich am Lagerfeuer wieder und baut | |
das Zelt auf, das man früher für eine romantische Nacht unter den Sternen | |
genutzt hat. | |
Für die, die noch ein Haus haben, ist es nicht besser. Wie für Cindy Cerda, | |
25. Zu dreizehnt in drei Zimmern, vier in einem Bett. Sie leben von zwei | |
Gehältern. Ein Mechaniker- und ein Klempnergehalt, zusammen 200.000 Pesos | |
pro Monat. Das ist weniger als ein Mindestlohn. Über die Proteste auf der | |
Plaza Italia sagt sie: „Ich würde gehen, wenn ich es mir leisten könnte.“ | |
Dagegen die Reichen am anderen Ende der Stadt, da, wo alles glänzend ist. | |
Hier hat niemand mit einem Aufstand gerechnet. „Wir haben keine Ahnung, wer | |
sie sind. Was sie wollen“, sagt Xaviera vom „The Dog Room“, einem Geschä… | |
für Hundezubehör. | |
Spiele, Kekse, Shampoo für glänzendes Haar. „Bis zum 18. Oktober war alles | |
perfekt. Denn Santiago, sehen Sie, das ist wie Europa. Wir hatten nie | |
Probleme.“ Es kam völlig aus heiterem Himmel. „Sie sind Kubas Marionetten. | |
Wenn sie wirklich Chilenen wären, würden sie Chile nicht zerstören.“ | |
Auch Carolina von „Loden Haus“, wo es alles aus Kaschmir gibt, meint, es | |
sei nur ein Haufen Kommunisten. Versager, die ihr ihre Tochter genommen | |
hätten. Die sei auf der Plaza Italia und protestiere um des Protestes | |
willen. „Sie hat diese Verfassung, die sie so sehr aufregt, nie gelesen. | |
Aber was weiß sie schon von den Armen?“, sagt sie. „Sie kommt zurück und | |
geht mit meiner Visa-Karte einkaufen.“ | |
Sie haben Angst vor einen Angriff der Demonstranten. Auch wenn Amnesty | |
International wegen der 29 Toten und fast 2.500 Verletzten bisher eher | |
Kritik an der Polizei geübt hat. Denn es stimmt, dass die Polizei nur | |
Gummigeschosse abfeuert. Aber Gummigeschosse, die zu 20 Prozent aus Gummi | |
und zu 80 Prozent aus Blei sind. Aus weniger als 25 Metern Entfernung | |
können sie tödlich sein. Die Polizei behauptet, aus mehr als 45 Metern zu | |
schießen. Nur haben ihre Gewehre keine Entfernungsmesser. „Gummi?“, so sagt | |
man mir in „Milaires“, einer Buchboutique, „was ist das denn? Ein Spiel? | |
Nein, das ist ein Krieg. Sie sollten echte Kugeln abfeuern.“ | |
Tatsächlich gibt es Gerüchte über einen Angriff in ihrer Gegend: auf die | |
Costanera-Mall. Das Symbol von Santiago. Das höchste Hochhaus Südamerikas. | |
Im Gebäude hoffen sie darauf: weil es eine Befreiung wäre. | |
## Aber wen interessiert’s? | |
In einem H&M, einem Zara, einem Diesel findet man nicht die Besitzer, | |
sondern Verkäuferinnen. Alle in ihren Dreißigern. Und alle zum Mindestlohn. | |
300.000 Pesos, 380 Dollar. Zuzüglich einer Verkaufsprovision. „Wir sind auf | |
die Straße gegangen, weil wir nach Pinochet geboren sind. Und keine Angst | |
haben. Und weil wir nichts haben. Wir leben in der totalen Unsicherheit, | |
die die finale Konsequenz des Neoliberalismus ist: mit immer schwächeren | |
Gewerkschaften und immer stärkeren Unternehmen“, sagten sie im „Oakley“, | |
einem Brillengeschäft. | |
Wir haben nur Schulden, sagen sie. Schulden vom Studium. „Denn ja, hier | |
bekommt man leicht Kredite. Aber zu Wucherzinsen.“ Chile hat die teuerste | |
Ausbildung der Welt. Sie nimmt 22,7 Prozent des Haushaltseinkommens in | |
Anspruch. „Und bis du nicht alles zurückzahlst, kriegst du keine neuen | |
Kredite“, heißt es bei Starbucks. „Nicht einmal, um ein Telefon zu kaufen.… | |
Für seinen BA-Abschluss in Soziologie zahlte der Barista 6 Millionen Pesos | |
pro Jahr, die auf 45 Millionen angewachsen sind. Das sind mehr als 50.000 | |
Dollar. | |
Und wenn sie jetzt auf die Barrikaden gehen, liegt es auch daran, dass ihre | |
Eltern ihnen nicht mehr unter die Arme greifen können: sie sind alt | |
mittlerweile, 72 Prozent von ihnen mit einer Minimalrente. 100.000 Pesos im | |
Monat. 130 Dollar. | |
Für Eduardo Steffens, 45 Jahre und Finanzberater aus dem nördlichen El | |
Golf, spielen Zahlen keine Rolle. Am Ende sei es so einfach, sie zu | |
manipulieren, sagt er. „Und sowieso erwähnt nie jemand, welche Rolle die | |
Armen bei ihrer Armut spielen“, sagt er. „Sie kaufen, kaufen. Und häufen | |
Schulden an. Und das mit Mindestrente? In Kuba würde sie nicht einmal die | |
bekommen. Mindestrente bedeutet doch, dass sie nicht genug gearbeitet | |
haben.“ | |
Und Gonzalo Greg, ein Jurist ebenfalls aus El Golf, sagt: „Sie nennen die | |
Proteste eine Form der Demokratie. Aber sie tun das Gegenteil: Sie | |
versuchen die Demokratie zu umgehen.“ Wenn sie von Piñera die Nase voll | |
hätten, könnten sie beim nächsten Mal doch einen anderen wählen. „Und | |
überhaupt“, sagt er noch, „sie glauben, ihr Protest habe Einfluss auf mich. | |
Ja sicher, unsere Kanzlei wird für eine Weile zu sein. Aber wen | |
interessiert’s? Ich fahre in den Urlaub.“ | |
Übersetzung: Waltraud Schwab | |
5 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Francesca Borri | |
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