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# taz.de -- Historiker über Geschichte auf Twitter: „Wo sich Heute und Geste…
> Der Twitteraccount @drguidoknapp postet jeden Tag historische Fakten. Die
> sind nicht nur lustig, sondern kommentieren das aktuelle Geschehen.
Bild: So attraktiv geht Geschichtsvermittlung
taz: Herr Telgenbüscher, welches Konzept hatten Sie im Kopf, als Sie vor
Jahren mit [1][ihrem Twitter-Account] gestartet sind?
Ich wollte Dinge unterbringen, auf die ich in der täglichen Arbeit als
Geschichtsjournalist stoße und von denen ich vorher nichts wusste. Ein
Kollege und ich haben uns immer gegenseitig vorgelesen, wenn wir ein
überraschendes Detail gefunden haben. Nachdem er gekündigt hat, habe ich
mir gesagt: Wenn ich ihm das nicht mehr erzählen kann, warum lade ich es
nicht bei Twitter ab? Von einem Konzept würde ich aber gar nicht unbedingt
sprechen wollen, dafür mache ich das viel zu chaotisch.
Immerhin scheinen Sie sich fürs Twittern geregelte Arbeitszeiten gegeben zu
haben.
Der Account ist ein Hobby, das mir über den Kopf gewachsen ist. Ich
twittere tatsächlich morgens immer zum ersten Kaffee, möglichst vor neun
Uhr, weil ich mir immer einbilde, dass nach neun alle im Büro sitzen und
keiner mehr drauf guckt. Früher habe ich nur einmal am Tag getwittert,
mittlerweile poste ich in der Regel noch nach dem Abendessen etwas.
Viele Tweets wirken wie ein indirekter Kommentar zum Tagesgeschehen und
auch zu aktuellen Debatten – zum Beispiel einer, der sich auf eine
Begebenheit von 1984 bezieht, als in Hamburg 191 polnische Passagiere eines
Kreuzfahrtschiffs Asyl beantragen und es auch bekommen.
Mittlerweile suche ich ganz bewusst nach Geschichten, wo sich Gegenwart und
Vergangenheit reimen.
Sind solche Tweets denn auch Nebenprodukte des täglichen Viellesens in der
Redaktion?
Nicht nur. Manchmal schaue ich gezielt ins Spiegel-Volltext-Archiv, um
Geschichten dieser Art zu finden. Bei [2][Markus Söders Kreuz-Dekret] zum
Beispiel war das der Fall. Neun von zehn Tweets, die viral gehen, fallen in
diese Kategorie. Ich versuche aber, das Humorige, den Spieltrieb nicht
aufzugeben. Manchmal muss ich ja gar nicht besonders witzig formulieren.
Dann besteht meine Leistung darin, dass ich einen unglaublich lustigen
Einfall aufspüre, den jemand in der Geschichte hatte.
Für welchen Tweet trifft das zum Beispiel zu?
Kürzlich habe ich gepostet, dass der Playboy in den USA den Chef einer
dortigen nationalsozialistischen Splitterpartei interviewen wollte. Der hat
dann gesagt, der Interviewer dürfe kein Jude sein. Die Redaktion hat
schließlich einen Schwarzen geschickt, Alex Haley, der später den berühmten
Roman „Roots“ geschrieben hat.
Mir hat besonders ein Tweet über Helmut Schmidt gefallen, weil der sowohl
komisch als auch aufschlussreich war. Sie verlinken ein YouTube-Video von
1971, in dem zu hören ist, wie Schmidt in der ZDF-Show „3 mal 9“ George
Gershwins „I got rhythm“ auf der Hammondorgel spielt. Dass hochrangige
Politiker schon damals bereit waren, sich zum Affen zu machen und das Spiel
der Medien mitzuspielen, ist ja etwas überraschend.
Ja, zumal man mit Helmut Schmidt immer zunächst das Staatsmännische
verbindet – und sein Credo „Mit Terroristen wird nicht verhandelt“. Die
Geschichte mit dem Show-Auftritt habe ich in einem Rezensionsexemplar einer
neuen Schmidt-Biografie entdeckt. Natürlich bin ich auch in der
Twitter-Persona Guido Knapp Geschichtsjournalist. Ich forme Dinge um, die
schon veröffentlicht sind, auch Forschungsergebnisse und Ähnliches, und
verbreite sie. Ich bin in dieser Hinsicht auch ein
geschichtswissenschaftlicher Abstauber. Manchmal ziehe ich aus
Monumentalwerken, in die die Autoren mehrere Jahre ihres Lebens gesteckt
haben, die drei Nuggets raus, die man über Twitter am besten verbreiten
kann.
Ist der Account-Name Dr. Guido Knapp nur ein Gag oder ist er einer langen
Beschäftigung mit dem früheren ZDF-Redakteur Guido Knopp entsprungen?
Tatsächlich nur ein Gag. Ich habe den Account in meinem Urlaub gestartet
und gedacht, dass das eh kaum jemand liest. Was Geschichtsvermittlung
jenseits des akademischen Betriebs angeht, ist Guido Knopp sicherlich ein
Pionier. Wie er das dann gemacht hat, ist eine andere Frage. Immerhin hat
er ein Feld geöffnet, das muss man ihm lassen.
Sie haben, was bei Journalisten eher unüblich ist, Ihren bürgerlichen Namen
in Ihrem Account lange Zeit gar nicht erwähnt. Warum?
Zum einen, weil das, was ich bei Twitter mache, nichts mit meinem
Alltagsjob zu tun hat – abgesehen davon, dass mir bei der Arbeit Dinge
begegnen, die ich dann poste. Zum anderen, weil ich wissen wollte, ob diese
Art von Content funktioniert. Ich kenne naturgemäß viele Journalisten, und
wenn mir dann zu Beginn gleich drei Kollegen von Spiegel Online und zwei
von der Zeit folgen, ist das Experiment verfälscht. Die ersten Follower,
mit denen ich in Kontakt getreten bin, waren eben nicht Leute, die aus
meiner Journalistenblase kamen, sondern junge Historiker, die sich für
diese Art der Geschichtsvermittlung interessieren.
Es gibt in vielen Medien historische Rubriken, etwa das „Kalenderblatt“ im
Deutschlandfunk. Was halten Sie davon?
Davon habe ich mich immer abgegrenzt. Heute vor soundso vielen Jahren wurde
Konrad Adenauer geboren – so ein Beitrag kann mal ganz nett sein, aber ich
bin kein Freund des Jahrestagsjournalismus. Mir kommt es immer auf den
Überraschungseffekt und die Pointe an. Ich habe in England studiert und bin
auch viel im englischsprachigen Twitter-Universum unterwegs. Es gibt dort
viel mehr twitternde Historiker als in Deutschland. Die Posts dieser
Twitterstorians, wie man sie auch nennt, sind schon sehr pointiert. Da habe
ich mir ein bisschen was abgeguckt.
Woran liegt es, dass in England mehr renommierte Historiker twittern als in
Deutschland?
Die Historiker im angloamerikanischen Raum suchen schon länger nach anderen
Wegen in die Öffentlichkeit. Die waren früh dran, was das Fernsehen und den
Massenbuchmarkt angeht. Daher sind auch die Berührungsängste mit Twitter
nicht sehr groß. Unter den Twitterstorians sind auch viele
Lehrstuhlinhaber. Sir Richard J. Evans, der in Cambridge gelehrt hat und
mittlerweile emeritiert ist, ist zum Beispiel auf Twitter. Das ist in etwa
so, als würde Herfried Münkler twittern.
Muss man im postfaktischen Zeitalter Fakten anders bewerten, die man bis
vor Kurzem noch als in erster Linie amüsant betrachtet hätte?
Ein Fakt, der eine Perspektive auf eine aktuelle Diskussion eröffnet, kann
selbstverständlich relevant sein – und sei er noch so abseitig. Neulich
habe ich aufgegriffen, dass Bismarck Mitte des 19. Jahrhunderts den
Mediziner und Abgeordneten Rudolf Virchow zum Duell herausgefordert hat.
Ich habe das gepostet, als Alexander Gauland [3][in der „Vogelschiss“-Rede]
gefordert hat, man müsse Bismarck wieder zum Maßstab der Politik machen.
Dass ständig über Geschichte gesprochen wird, aber ziemlich losgelöst von
historischen Fakten, ist natürlich kein rein deutsches Phänomen. Ich habe
gerade „Cultural Dementia“ gelesen, das aktuelle Buch des englischen
Historikers David Andress, auch er ein Twitterstorian. Er beschäftigt sich
mit aktuellen Debatten in Großbritannien, den USA und Frankreich.
Worauf bezieht er sich konkret?
Auf den Brexit, auch auf Trump. Andress kritisiert die weit verbreitete,
teilweise geradezu wahnhafte Vorstellung von einer glorreichen
Vergangenheit, die den westlichen Nationen angeblich weggenommen worden ist
und die sie zurückgewinnen müssen – durch den Brexit oder Abschottung oder
was auch immer. Er betont dagegen: So glorreich waren die beschworenen
Zeiten nicht. Der Erfolg des British Empire etwa basierte auf
kolonialistischer Ausbeutung. Mehr denn je muss man den Leuten solche
historische Fakten vor Augen führen – und dazu trage ich mit meinem Account
manchmal ja auch meinen ganz kleinen Teil bei.
30 Aug 2018
## LINKS
[1] https://twitter.com/drguidoknapp
[2] /Markus-Soeders-Kreuzerlass/!5506490
[3] /Kommentar-Gaulands-Vogelschiss/!5507575
## AUTOREN
René Martens
## TAGS
Twitter / X
Geschichte
Historie
Social Media
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Erinnerungskultur
Arte
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