# taz.de -- Zeitzeuge über seine Kindheit im NS-Staat: „Wichtig, das offenzu… | |
> Als Kind hat er selbst den „Führer“ verehrt und war bei der Hitlerjugend. | |
> Nun hat Claus Günther ein Buch über sein Mitläufertum geschrieben. | |
Bild: Kam kurz vor Kriegsende in die Kinderlandverschickung: Claus Günther. | |
taz: Herr Günther, haben Sie Hitler verehrt? | |
Claus Günther: Ja, eine Zeit lang natürlich. Ich kann mich an Hitlers 50. | |
Geburtstag erinnern. Das war 1939, aber noch vor Kriegsbeginn. Ich bin am | |
Abend vorher mit meinen Eltern durch Harburg gegangen und es war alles | |
geschmückt – Schaufenster voller Girlanden, Hakenkreuzfahnen und | |
Hitlerbilder. Da habe ich als Junge überlegt: „Mensch, Hitler ist schon 50. | |
Was würden wir denn machen, wenn der nicht mehr da wäre?“ Das war für mich | |
unvorstellbar. | |
Wie war die Hitlerjugend für Sie? | |
Wenn wir marschierten, habe ich schon ein Hochgefühl gehabt. Wir kamen mit | |
der Mannschaft an und die Muttis mit ihren Einkaufstaschen mussten Platz | |
machen, die Straßenbahn hat angehalten, die Fahne wurde gegrüßt. Das war | |
aufregend. | |
Gab es auch etwas, das Sie gestört hat? | |
Man hat Disziplin und Kameradschaft gelernt, aber das hatte auch eine | |
Kehrseite. Diese Kameradschaft war brüchig. Nachdem ein schmächtiger Junge | |
mehrmals ohne Entschuldigung beim Dienst gefehlt hatte, wurde er vom | |
Größten in der Riege vor unseren Augen zusammengeschlagen, bis er liegen | |
blieb. | |
Keiner hat geholfen? | |
Nein. Alle haben geschluckt, aber geschwiegen. Ich habe mich selbst auch | |
nicht getraut. Das ist es, was ich auch in Schulen sage: „Kollektive Angst | |
erzeugt kollektives Schweigen.“ | |
Wie haben Sie sich selbst gegenüber Juden verhalten? | |
Wir hatten jüdische Mitbürger auf der Nachbarschaft. Das war eine | |
fünfköpfige Familie – eine Großmutter mit Anfang 70, die Eltern und zwei | |
fast erwachsene Kinder. Die habe ich aber nie gesehen. Als mein Nachbar | |
eines Tages nach Hause kam, hatte er mit der Aktentasche seinen Judenstern | |
verdeckt. Das ging ja nun gar nicht, habe ich gedacht. Da habe ich all | |
meinen „Mut“ zusammengenommen und habe einen Spottvers hinübergerufen, der | |
mit den Worten „Itzig Itzig Judenschwein“ begann. | |
„Itzig“ war damals ein pauschales Schimpfwort für Juden. | |
Genau. Eigentlich war ich gut erzogen und wusste, dass Erwachsene | |
Respektspersonen sind. Doch dem gegenüber durfte ich mir ja was erlauben, | |
hab ich gedacht. Und dann hatte ich eine Hand im Nacken vom Sohn unseres | |
Hauswirts. Der war vielleicht vier Jahre älter als ich, also 14 Jahre alt, | |
und raunte mir ins Ohr: „Das musst du nicht tun. Das sind doch auch | |
Menschen.“ Ich habe mich furchtbar geschämt und tue es noch heute. | |
Haben Sie mitbekommen, dass Menschen in Ihrer Umgebung verschwunden sind? | |
Ja. Bei der jüdischen Familie in meiner Nachbarschaft waren die Holzläden | |
vor den Fenstern auch tagsüber geschlossen. Sie öffneten nur die Tür einen | |
Spalt, wenn der Rabbi in seinem langen Gewand zu ihnen kam, um ihnen Trost | |
zu spenden. Irgendwann kam ich mittags von der Schule nach Hause und da | |
waren die Fenster offen und es waren Maler zugange, die gepfiffen und | |
gesungen haben. Ich habe meine Mutter gefragt, wo unsere Nachbarn | |
abgeblieben sind und die Antwort bekommen, dass sie wohl im Arbeitslager | |
sind. | |
Wussten Sie oder Ihre Mutter damals, dass die Menschen in den | |
Konzentrationslagern ermordet wurden? | |
Nein. Ein Konzentrationslager wurde uns so verkauft, dass da Menschen, die | |
gegen uns sind, konzentriert werden und arbeiten müssen. Allerdings ist | |
mein Vater in den 40er-Jahren ins besetzte Polen versetzt worden. Das war | |
in Chrzanów, wenige Kilometer von Auschwitz entfernt. Und ich weiß noch, | |
als Vater mal zu Hause war und ich ins Zimmer reinkam, waren beide Eltern | |
wie erstarrt und haben das Gespräch sofort abgebrochen. Der muss was gehört | |
haben. | |
Ihr Vater war Nationalsozialist? | |
Ja. Mein Vater war SA-Mitglied und ist in Harburg 1938 mit zur Synagoge | |
marschiert. Bei uns passierte das mit einem Tag Verzögerung am 10. | |
November. Er wurde von seinen SA-Kameraden zum Sondereinsatz abgeholt. Ich | |
konnte nicht schlafen und saß zum Ausgucken am Fenster. Der Fackelzug | |
spiegelte sich in den Scheiben. Und der Trupp marschierte, aber die haben | |
nicht gesungen. Alle paar Schritte trommelte jemand. Das wirkte sehr | |
bedrohlich. Mein Vater ging mit der Fahne vorneweg. | |
Hat er die Synagoge geschändet? | |
Ich habe es nie rausgekriegt. Wahrscheinlich nicht, aber er hat bei den | |
Absperrungen geholfen. Seine SA-Kollegen in Zivil wollten die Synagoge | |
anzünden, aber dann ist jemandem aufgefallen, dass nebenan eine Tankstelle | |
war. Da haben sie das ganze Inventar zerstört. | |
Warum glauben Sie trotzdem nicht, dass Ihr Vater Juden gehasst hat? | |
Was ich meinem Vater zugute halte, ist dass er in Polen beim Landratsamt in | |
der Passabteilung vielen Juden zur Ausreise verholfen hat. Ich habe eine | |
Bescheinigung von nach dem Kriege, in dem ihm das bestätigt wird. Als er | |
dort in Chrzanów lebte, wurde er schwer krank. Die Menschen, denen er die | |
Pässe ausgestellt hatte, verwöhnten ihn mit Lebensmitteln und Delikatessen, | |
um ihn wieder auf die Beine zu kriegen. | |
Oder hat er sich die Hilfe bezahlen lassen? | |
Ich denke, er war naiv. Das ganze wurde von seinen Vorgesetzten gefördert. | |
Die waren polen- und judenfreundlich. | |
Haben sich Ihre Eltern sehr angepasst? | |
Ja, es ging immer darum, bloß nicht anzuecken. Wir hatten eine Schallplatte | |
von dem jüdischen Sänger Joseph Schmidt. Ein wunderbarer Tenor. Irgendwann | |
hieß es aber, „das darf man ja eigentlich gar nicht mehr spielen“. Und mein | |
Vater hat die Schallplatte entsorgt. | |
Wie haben Sie in Ihrem Umfeld die Stimmung wahrgenommen, nachdem | |
Deutschland Polen überfallen hatte? | |
Niemand ist auf die Straße gegangen und hat gejubelt. Ich selbst habe Angst | |
bekommen, nachdem ich die Ansprache des Führers im Radio gehört habe: „Von | |
jetzt an wird Bombe mit Bombe vergolten“, hat er gesagt. | |
Wann haben Sie zum ersten Mal in einem Luftschutzkeller gesessen? | |
Das muss 1940 gewesen sein. Zu Anfang war das noch ein großes Abenteuer für | |
mich. Jeder Haushalt kriegte Gasmasken und die habe ich ausprobiert. Und | |
als in Harburg das erste Haus von einer Bombe getroffen wurde, da ging dann | |
Sonntags eine halbe Völkerwanderung hin. Dem Haus fehlte die ganze | |
Vorderwand wie bei einer überdimensionierten Puppenstube. Und irgendwann in | |
der Schule fehlte Uwe. Der war bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. | |
Also mussten Sie sich plötzlich mit dem Tod auseinander setzen? | |
Ja, aber als Kind konnte ich mich gut davon abgrenzen, vielleicht auch, | |
weil mir das Vorstellungsvermögen fehlte. Ein Privileg der Kinder, für den | |
Moment zu erschrecken und dann weiterzuleben. | |
Erinnern Sie sich an den 25. Oktober 1944, den Tag, an dem Harburger | |
Wohngebiete getroffen wurden und mehr als 700 Menschen starben? | |
Zu dieser Zeit war ich schon in der Kinderlandverschickung. Die halbe | |
Klasse hat damals ein Telegramm bekommen: „Ausgebombt, aber uns geht es | |
gut.“ Später habe ich erfahren, dass meine Mutter noch in unser brennendes | |
Haus reingerannt ist. Aber sie konnte außer dem obligatorischen | |
Handköfferchen mit den Papieren so gut wie nichts retten. | |
Warum hat Ihre Mutter Sie in die Kinderlandverschickung gegeben? | |
Das war gar nicht anders möglich. Unsere ganze Schule ist evakuiert worden, | |
mitsamt der Lehrer. Wir waren die Jugend von morgen, die Deutschland nach | |
dem Krieg wieder aufbauen sollte. | |
Wo waren Sie? | |
Zunächst in mehreren Orten im besetzten Tschechien. Dann kamen die Russen. | |
Wir hörten in der Ferne den Kanonendonner und sind nach Bayern, ins Kloster | |
Windberg, geflüchtet. | |
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie da die Schuhe eines Ermordeten | |
getragen haben. | |
Ich bin schon in Harburg mit schlechtem Schuhwerk los und irgendwann waren | |
die ganz kaputt. Dann sagte mir einer der Lehrer, wo ich hingehen könnte, | |
um mir neue zu holen. Geld oder einen Bezugsschein bräuchte ich nicht. Der | |
Raum war übersät mit Schuhen und Stiefeln aller Größen. Und da habe ich mir | |
ein Paar ausgesucht und gedacht: „Wenn unsere Feinde noch so gute Schuhe | |
haben, warum haben die die denn nicht gegen Butter getauscht?“ Erst Jahre | |
später ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen, dass das Schuhe von | |
Kindern gewesen sein müssen, die ermordet wurden. | |
Wie sind Sie damit zurechtgekommen? | |
Schlecht. Ich schulde dem Jungen Dank, doch ich habe ein schlechtes | |
Gewissen. | |
Wann haben Sie damit angefangen, diese ganzen Vorurteile gegenüber Juden, | |
Sinti und Roma und Fremden zu hinterfragen? | |
Es gab einen Film, der für mich sehr prägend war. Der heißt „Die | |
Todesmühlen“ und ist ungefähr 20 Minuten lang. Der ist von den Amis und von | |
den Engländern nach der Befreiung von KZ-Lagern gemacht worden, Regie: | |
Billy Wilder. | |
Ist das ein Dokumentarfilm? | |
Ja, mit Aufnahmen von den Leichenbergen, von den Skeletten der | |
Überlebenden, schwer zu ertragen. Mein Vater und ich gingen eines Tages | |
gemeinsam durch Harburg. Plötzlich versperrten uns Männer in KZ-Kleidung | |
den Weg und sagten: „Hier, geh’n Sie mal rein ins Kino, kostet nichts.“ I… | |
habe mit meinem Vater nicht über die Bilder sprechen können, und er auch | |
nicht mit mir. Ich habe mich danach jahrzehntelang geschämt, Deutscher zu | |
sein. | |
Im Moment sieht man Bilder, von angezündeten Flüchtlingsheimen, die Zahl | |
rechtsextremistischer Gewalttaten steigt. Sehen Sie Parallelen zu der Zeit, | |
in der Sie aufgewachsen sind? | |
Absolut. Ich hab mir ja auch nie vorstellen können nach dem Krieg, dass es | |
einmal so etwas wie Neonazis geben könnte. Und als ich die ersten | |
Bundeswehrsoldaten gesehen habe, ich hätte die ohrfeigen können. | |
Warum haben Sie Ihre Geschichte aufgeschrieben? | |
Es hat Millionen Mitläufer gegeben, doch es gibt kaum jemanden, der sagt, | |
meine Eltern waren Nazis. Es ist mir wichtig, das offen zu legen, dieses | |
ganze Duckmäusertum. | |
Wie gehen Schüler mit Ihren Erzählungen um? | |
In einem einzigen Fall habe ich an einem Gymnasium erlebt, dass die | |
Abiturienten an ihren Tischen saßen und kein Wort gesagt haben. Aber | |
eigentlich läuft es anders. Allerdings haben das Interesse an der NS-Zeit | |
und die Anfragen für Gespräche mit uns in den letzten Jahren nachgelassen. | |
Das ist fatal. Ich möchte die junge Generation vor Einflüsterungen | |
vonseiten der Populisten warnen. | |
6 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Andrea Scharpen | |
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