# taz.de -- Gedenken an den Nationalsozialismus: Schienen in den Tod | |
> Vor 75 Jahren begann die Deportation der Berliner Juden. Am Mittwoch wird | |
> der Opfer gedacht. Ein 88-jähriger Zeitzeuge wird die Gedenkrede halten. | |
Bild: Auf der Gedenkveranstaltung werden traditionell weiße Rosen niedergelegt | |
Im hinteren Teil der Werkstatt liegt er versteckt: Ein fensterloser Raum, | |
dessen hell tapezierten Wände von einem bunten Blumenmuster durchdrungen | |
werden. Verborgen hinter einem Kleiderschrank, durch den man ihn betreten | |
konnte. Hier wurden Chaim, Machla, Max und Ruth Horn vom Kleinfabrikanten | |
Otto Weidt vor der Gestapo versteckt, wie die Ausstellung im Museum | |
Blindenwerkstatt Otto Weidt dokumentiert. Doch die Tarnung flog auf. Die | |
Familie wurde bei einer Razzia entdeckt und nach Auschwitz-Birkenau | |
deportiert. Auf den Schienen der Reichsbahn fuhren die Horns in den Tod. | |
Genau wie über 65.000 andere jüdische Frauen, Männer und Kinder. | |
Am Mittwoch (19. Oktober) wird der Opfer der Deportationen mit einer | |
Gedenkfeier im Bahnhof Grunewald gedacht. Einer der wenigen noch lebenden | |
Zeitzeugen, Horst Selbiger, wird dabei die Gedenkrede halten. Am 18. | |
Oktober 1941 verließ der erste Berliner Osttransport mit 1.089 Juden den | |
Bahnhof in Richtung Litzmannstadt (das heutige polnische Łódź). Es folgten | |
183 weitere Transporte. Anfangs brachten die Züge die Juden in Gettos, bald | |
jedoch ausschließlich in die Konzentrations- und Vernichtungslager im | |
Osten, darunter Theresienstadt und Auschwitz. | |
Zwischen 1941 und Kriegsende 1945 wurden mehr als 56.000 Juden aus Berlin | |
deportiert. Die Stadt sollte „judenfrei“ werden, wie NS-Propagandachef | |
Joseph Goebbels es ausdrückte. Neben dem Bahnhof in Grunewald waren später | |
der Güterbahnhof Moabit und der Anhalter Bahnhof Abfahrtsstellen für die | |
Reise in den Tod. Die Reichsbahn stellte den jüdischen Gemeinden die | |
„Beförderung“ in Rechnung: pro Kilometer vier Pfennige für Erwachsene, zw… | |
Pfennige für Kinder. | |
Seit 1998 erinnert das Mahnmal Gleis 17 am Bahnhof Grunewald an die | |
Verbrechen des Nationalsozialismus und die grausame Rolle der Reichsbahn | |
als Transportmittel für die Deportation. Auf über 130 Meter langen | |
gusseisernen Platten ist jeder Transport mit Datum, Zahl der Deportierten | |
und Zielort dokumentiert. | |
## Zeitzeuge Horst Selbiger | |
Der 88-jährige Horst Selbiger erlebte mit, wie immer mehr Kinder aus seiner | |
jüdischen Schule verschwanden, und war selbst 14 Jahre alt, als er zur | |
Zwangsarbeit in einem Rüstungsbetrieb verpflichtet wurde. Als | |
Gründungsmitglied des Vereins Child Survivors Deutschland vermittelt er bis | |
heute seine Erfahrungen in Vorträgen und Diskussionen. | |
An die Schrecken von damals erinnert auch das Museum Blindenwerkstatt in | |
der Rosenthaler Straße: Hier beschäftigte und beschützte der Kleinfabrikant | |
Otto Weidt überwiegend blinde und taube Juden. Weidt hatte mit zunehmender | |
Erblindung das Bürstenhandwerk erlernt und baute nahe des Hackeschen | |
Marktes eine Werkstatt auf. Sie stellten Besen und Bürsten im Auftrag der | |
Wehrmacht her. | |
Otto Weidts Werkstatt wurde regelmäßig von der Gestapo kontrolliert. Mit | |
Geschick bestach er die Beamten, um Juden vor der Deportation zu retten. | |
Einige versteckte er, darunter die Familie Horn im Jahr 1942. Doch der | |
Spitzel Ralf Isaaksohn verriet der Gestapo den fensterlosen Raum hinter dem | |
Kleiderschrank – die Familie Horn wurde im Oktober 1943 deportiert und | |
ermordet. | |
Die noch erhaltenen Werkstatträume und die seit 1999 dazugehörige | |
Ausstellung faszinieren bis heute SchülerInnen, die das Museum besuchen. | |
Warum hilft man jemandem? Wie konnte man einander damals noch vertrauen? | |
Woher hatte Otto Weidt die Lebensmittel, um die Familie zu versorgen? Die | |
SchülerInnen haben viele Fragen, berichtet die Gymnasiallehrerin und | |
Studienrätin der Humboldt-Universität für Geschichte, Sabine Hillebrecht, | |
die mit ihren Zehnt- bis ZwölftklässlerInnen regelmäßig das Thema | |
Nationalsozialismus bearbeitet. | |
## Zeitzeugin Inge Deutschkron | |
Viele seien anfänglich skeptisch, wenn das Thema erneut auf den Tisch | |
kommt. Man wisse bereits alles. Doch sie werden schnell eines Besseren | |
belehrt. „Insbesondere der direkte Austausch mit der Zeitzeugin Inge | |
Deutschkron hinterlässt bei den Schülern einen nachhaltigen Eindruck“, sagt | |
Hillebrecht. Die 1922 geborene Deutschkron war nicht nur Zeitzeugin und | |
arbeitete von 1941 bis 1943 in Otto Weidts Werkstatt. | |
Deutschkron war auch Initiatorin des Gedenkens an die sogenannten Stillen | |
Helden: die Helfer der Juden. Ihr Buch „Ich trug den gelben Stern“, liest | |
Lehrerin Hillebrecht häufig mit den SchülerInnen als Vorbereitung: „Doch | |
meist fasziniert die reale Frau Deutschkron mit ihrer direkten Art und | |
ihrem Berliner Witz am meisten“, sagt Hillebrecht. | |
In wenigen Jahren wird es jedoch keine Zeitzeugen mehr geben und den | |
SchülerInnen muss das Thema auf anderem Wege nahe gebracht werden. Dann sei | |
es wirksam, an authentische Orte zu gehen, um die Geschichte für die | |
Jugendlichen greifbar zu machen, sagt Lehrerin Hillebrecht. Zudem sei es | |
sinnvoll, Videointerviews der verstorbenen Zeitzeugen zu sehen: „Als | |
personifizierte Geschichten, die das menschliche Leid der Zeit vermitteln | |
können.“ | |
Das original erhaltene Versteck im Museum fasziniere die jungen Besucher am | |
meisten, bestätigt Mitarbeiterin Katja Döhnel, die regelmäßig auch jüngere | |
Schüler ab der fünften Klasse durch die Werkstatt führt. Sie weiß Antworten | |
auf deren viele Fragen: Otto Weidt verkaufte seine Bürsten teils nicht an | |
die Gestapo, sondern auf dem Schwarzmarkt. So kam er etwa an Parfüm, um die | |
Gestapo zu bestechen, und an Geld, um seine Schützlinge mit Lebensmitteln | |
zu versorgen. Dennoch wurden letztlich viele der versteckten und | |
angestellten Juden verhaftet und ermordet. Genaue Zahlen gibt es nicht. | |
„Es ist in der deutschen Gedenkkultur verankert, dass wir uns immer wieder | |
die Gräueltaten der Vergangenheit vor Augen führen“, so Döhnel. Das | |
Interesse sei nach wie vor groß: rund 90.000 Besucher sahen sich im | |
vergangenen Jahr die Ausstellung an. | |
Einer von ihnen ist Peter Helms. Für den 45-Jährigen ist es heute wichtiger | |
denn je zu gedenken. „Früher brannten die Synagogen, heute brennen die | |
Flüchtlingsheime“, sagt Helms „Wir müssen die Lehren der Vergangenheit an | |
heutige Generationen, die ohne Krieg aufwuchsen, weitergeben, damit die | |
Jugend gegen Rechtsradikalismus sensibilisiert wird.“ | |
18 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Lara Janssen | |
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