# taz.de -- Unübersichtliche Mediatheken: Gute Inhalte, gut versteckt | |
> Beim Streamen von „Holocaust“ zeigt sich ein Dilemma des | |
> öffentlich-rechtlichen Online-Angebots: Es ignoriert moderne | |
> Sehgewohnheiten. | |
Bild: Die Mediathek des Ersten: schematische Ordnung und hölzernen Rubriken | |
Einige der Dritten Programme strahlen gegenwärtig wieder [1][die | |
US-amerikanische Fernsehserie „Holocaust“] aus, die bei ihrer Erstsendung | |
1979 in Deutschland sehr erfolgreich war und die Verbrechen der | |
Nationalsozialisten einer breiten Bevölkerungsschicht nahebrachte. Die | |
Erstausstrahlung von „Holocaust“ an fünf aufeinander folgenden Tagen | |
erreichte damals Einschaltquoten von bis zu 39 Prozent und gilt als | |
Meilenstein sowohl der deutschen Fernsehgeschichte als auch der | |
Aufarbeitung der Ereignisse im Nationalsozialismus. | |
Wegen der bleibenden Aktualität des Themas ist es gut, dass die | |
öffentlich-rechtlichen Anstalten die Sendung, die zuletzt vor vierzehn | |
Jahren gezeigt wurde, wieder ins Programm genommen haben. Wer jedoch in der | |
Mediathek des Ersten Programms nach der Sendung [2][sucht], wird nicht | |
fündig. Denn die Sendung wird nur über die [3][Website] des WDR gestreamt, | |
auf dessen Initiative hin die Serie abermals gezeigt wird. | |
In der Mediathek von SWR und NDR – die beiden anderen Sender, die die | |
Sendung wiederholen – sind die vier Folgen nicht zu finden. Beim WDR gab es | |
zunächst nur die beiden ersten Folgen, die in der letzten Woche | |
ausgestrahlt wurden; auch die Dokumentation „Wie der Holocaust ins | |
Fernsehen kam“ war dort zunächst nicht zu sehen. | |
Inzwischen ist die Serie samt Dokumentarfilm zwar vollständig in der | |
WDR-Mediathek zu finden und bleibt dort bis Ende Januar. Aber die | |
Veröffentlichung auf Raten zeigt ein Dilemma der öffentlich-rechtlichen | |
Mediatheken. Einer Generation, die mit Streamingdiensten wie Netflix, | |
Amazon Prime und Co ihre Mediensozialisation erhalten hat, ist nicht nur | |
nicht mehr zu vermitteln, dass man sich zu einer bestimmten Sendezeit vor | |
den Fernseher setzen muss, um ein bestimmtes Programm zu sehen. | |
Binge Watching trainiert | |
Im Zeitalter des Binge Watchings ist es zunehmend ungewöhnlich, dass eine | |
Serie nicht gleich komplett im Netz erscheint. Auch dass sie nach einigen | |
Wochen wieder verschwindet, entspricht nicht dem durch die Streamingdienste | |
antrainierten Rezeptionsverhalten. | |
Für viel Verwirrung sorgte zum Beispiel die Veröffentlichungsstrategie bei | |
der ARD-Prestigeserie „Babylon Berlin“: Zunächst war sie nur beim | |
Minderheitsfinanzier Sky zu sehen. Als sie endlich im | |
öffentlich-rechtlichen Fernsehen lief, waren die ersten Folgen nach zehn | |
Tagen schon wieder aus der Mediathek verschwunden, als die letzten gerade | |
eingestellt wurden. | |
Heute werden bei den Streamingdiensten nur Shows, [4][die wie „Better call | |
Saul“] oder „Riverdale“ wöchentlich im US-amerikanischen TV laufen, nicht | |
auf einen Schlag herausgebracht. Seit Netflix 2007 Video on Demand | |
anbietet, beobachtete man bei dem Unternehmen den Trend, dass viele Nutzer | |
Serien in stundenlangen Sessions am Stück guckten. Im Februar 2013 | |
„droppte“ Netflix daher eine seiner ersten Eigenproduktionen „House of | |
Cards“ mit dreizehn Folgen komplett an einem Tag – das Zeitalter des Binge | |
Watching hatte offiziell begonnen (der Begriff leitet sich vom „Binge | |
Drinking“ ab, also vom Komasaufen). Durch automatische Weiterschaltung von | |
Episodenende zum Beginn der nächsten Folge und die Möglichkeit, den | |
Vorspann zu überspringen, begünstigen Netflix und Amazon auch technisch | |
diese Rezeptionsweise. | |
Ebenso ist das Angebot von Netflix auf maximale Nutzerfreundlichkeit hin | |
optimiert. Wer die Website oder die App öffnet, wird sofort mit einer | |
Auswahl von Film- und Serienempfehlungen empfangen. Weil Netflix verfolgt, | |
was seine Kunden bereits gesehen haben, sind diese Empfehlungen auf das | |
Nutzerinteresse zugeschnitten; und wer etwas anderes haben will, wird mit | |
der Suchfunktion schnell fündig. | |
Millenials vermerken sich keine Sendedaten | |
Ganz anders dagegen die Mediathek des Ersten: Hier wird man von einer | |
schematischen Ordnung und hölzernen Rubriken empfangen, durch die man sich | |
selbst hindurch navigieren muss: Serien, Comedy, Dokumentarfilme, | |
„Tagesschau“. Wer eine bestimmte Sendung sucht, weiß besser Bescheid über | |
die Struktur der öffentlich-rechtlichen Anstalten. Das Angebot des | |
öffentlich-rechtlichen Jugendsenders Funk und von Kika wird weder bei ARD | |
noch ZDF angezeigt; auch Sender wie Arte oder Phoenix tragen durch eigene | |
Mediathek nicht gerade zur Übersichtlichkeit des Angebots bei. Hat man eine | |
Serie gefunden, wird man dann mit einer unsortierten Liste von Einzelfolgen | |
konfrontiert, während man bei Netflix sofort an der Stelle der Episode ist, | |
bis zu der man beim letzten Mal geguckt hat. | |
Auch dass „Holocaust“ am 24. Januar wieder aus der Mediathek verschwindet, | |
entspricht den Sehgewohnheiten von Millenials nicht. Denn die vermerken | |
sich keine Sendedaten mehr im Kalender. Sie sind es gewohnt, dass ein | |
Medienangebot einfach immer zur Verfügung steht. Und gerade „Holocaust“ | |
wäre für die Generation Streaming sehenswert. | |
Dabei können die Öffentlich-Rechtlichen ihre Sendungen inzwischen länger | |
als die früher üblichen sieben Tage online anbieten. Der neue | |
Telemedien-Staatsvertrag, der im Sommer 2018 nach jahrelangem Hickhack | |
fertig geworden ist, sieht vor, dass Programme von ARD und ZDF nicht nach | |
einer Woche „depubliziert“ werden müssen. | |
Das hat das Angebot aber auch unübersichtlich gemacht: Viele | |
Eigenproduktionen sind nun ein halbes Jahr oder länger online verfügbar, | |
andere verschwinden aber immer noch nach einer Woche aus dem Programm. Im | |
Fall von „Holocaust“ waren es die hohen Lizenzgebühren, derentwegen die | |
Serie nur drei Wochen online bleiben kann. (Bei kommerziellen | |
Streaminganbietern ist die Serie nicht zu finden; allerdings liegt sie | |
auf DVD und Blu-ray vor.) | |
Damit soll nicht gesagt sein, dass die öffentlich-rechtlichen Mediatheken | |
in jeder Hinsicht Netflix und Co nacheifern sollten. Besonders die | |
überbordende Datensammelei der Unternehmen ist kritisch zu sehen. Auch dass | |
der Zuschauer ununterbrochen gedrängt wird, immer weiterzugucken, ist | |
nichts, was die Öffentlich-Rechtlichen unbedingt übernehmen müssen. Aber | |
die amerikanischen Streaminganbieter haben im Bereich Video on Demand | |
Standards gesetzt, an denen sich auch die gebührenfinanzierten Sender | |
orientieren müssen, ob ihnen das gefällt oder nicht. | |
Je mehr sich Streaming durchsetzt, umso wichtiger ist es, dass ARD und ZDF | |
ein überzeugendes Online-Angebot haben. Anfangen könnte man mit einer | |
Mediathek, in der alles gesammelt ist, was mit Rundfunkmitteln finanziert | |
ist und im Internet gezeigt werden kann. Wenn das unter einer einzigen | |
Adresse zu finden ist, erhalten die Beitragszahler einen Überblick darüber, | |
wofür ihre Gebühren eigentlich ausgegeben werden – was möglicherweise auch | |
die Akzeptanz des Rundfunkbeitrags wieder erhöht. | |
19 Jan 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Regisseurin-ueber-Serie-Holocaust/!5559358 | |
[2] http://mediathek.daserste.de/suche?searchText=Holocaust | |
[3] https://www1.wdr.de/mediathek/video/ubersicht-holocaust-100.html | |
[4] /Kolumne-Die-Couchreporter/!5294356 | |
## AUTOREN | |
Tilman Baumgärtel | |
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