# taz.de -- Französische Autorin zu Sexualität: Sex ist fehlbar | |
> Catherine Millet hasste D. H. Lawrence, bevor sie anfing, ihn zu lieben. | |
> Ein Gespräch über Sexliteratur, weibliche Lust und den heutigen | |
> Feminismus. | |
Bild: Catherine Millet in ihrer Wohnung in Paris im April 2016 | |
taz am wochenende: Madame Millet, Sie haben in Frankreich gerade den | |
Essayband „Aimer Lawrence“ („Lawrence lieben“) veröffentlicht. Sie fü… | |
uns damit quer durch das Werk des britischen Schriftstellers. Was lieben | |
Sie an Lawrence? | |
Catherine Millet: Meine Geschichte mit ihm beginnt wie viele gute | |
Liebesgeschichten mit einer tiefen Abneigung. Ich bin eine sehr genaue | |
Leserin. Guter Stil ist mir wichtig. Und seinen fand ich wirklich schlecht. | |
Wahnsinnig schlampig. Mir ging es ein bisschen wie James Joyce: Der | |
verkündete gerne öffentlich D. H. Lawrence könne einfach nicht schreiben. | |
Dann haben Sie aber doch sehr viel Lawrence gelesen? | |
Absolut. Ich habe mich in ihn verliebt! Mittlerweile fällt es mir richtig | |
schwer, ihn nicht dauernd zu lesen, er fehlt mir sofort. Es ist eigenartig. | |
Irgendwann fand ich das, was mich anfangs störte – dieses sich ständig | |
Wiederholende oder Kapitel aneinanderzureihen, die nichts mit einander zu | |
tun haben – extrem rührend. Es ist auch Ausdruck einer großen Freiheit. Ich | |
glaube, er hatte kein besonders ausgeprägtes Über-Ich. | |
Warum sprechen Sie eigentlich so oft vom Über-Ich? | |
(lacht) Sie haben recht: Andauernd! Weil das mein großes Problem ist: Mein | |
Über-Ich ist gigantisch. Erst neulich meinte ein Freund wieder: „Du musst | |
dich mal locker machen.“ | |
Ich glaube, bei Lesern gelten Sie als extrem locker. Sie haben vor Kurzem | |
in einem Interview gesagt, Sie hätten „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ | |
vielleicht gar nicht geschrieben, wären Sie früher auf Lawrence gestoßen. | |
Hatten Sie „Lady Chatterley“ nie gelesen? | |
Komischerweise nein. Bis mich eine Zeitschrift um einen Artikel über diesen | |
Roman bat. Es war Lawrence’ letzter, sein radikalster. Wussten Sie, dass er | |
zuerst in Frankreich veröffentlicht wurde, weil ihn in England keiner | |
wollte? Offenbar dachten die Auftraggeber, die Autorin des „Sexuellen | |
Lebens der Catherine M.“ müsse eine Chatterley-Expertin sein. Im Nachhinein | |
verstehe ich natürlich, warum. | |
Wegen des Sex? | |
Ja, oder besser gesagt, weil Lawrence die weibliche Lust wahnsinnig gut | |
beschreibt. Deshalb sage ich auch, natürlich im Halbernst, ich hätte mein | |
Buch nie geschrieben, hätte ich ihn früher gelesen. Als ich „Das sexuelle | |
Leben“ anfing, da schien mir, es fehle uns eine gute, präzise, nicht | |
idealisierte Beschreibung der Sexualität. Ich wollte diese Lücke füllen. | |
Dabei hatte er das längst gemacht: Lesen Sie noch mal „Lady Chatterley“. | |
Dort gibt es Stellen, in denen er den weiblichen Orgasmus mit einer | |
Präzision beschreibt, die unglaublich ist. Ich hätte das gern selbst so | |
gekonnt. | |
Sie meinen Lawrence, ein Mann, beschreibt die weiblichen Empfindungen | |
besser als Sie? | |
Das scheint paradox. Aber ich schwöre Ihnen: So akkurat wie bei Lawrence | |
habe ich es noch nie gelesen. Auch bei keiner Frau. Man fragt sich | |
natürlich: Wie konnte er das wissen? | |
Stimmt. Wie konnte er das wissen? | |
Ich denke durch seine Frau, Frieda. Sie war extrem frei, hat Mann und | |
Kinder verlassen, um mit Lawrence auf Weltreise zu gehen. Als Deutsche | |
hatte sie früh Freud gelesen. Als nicht sehr intellektuelle Person verstand | |
sie seine Theorien sehr wörtlich: Sie hat Lawrence ständig betrogen, schon | |
im ersten Monat ihrer Beziehung viermal. Aber sie hat ihm auch sehr viel | |
sehr detailliert erzählt. Das half ihm sehr. Und dann hatte er auch viele | |
Freundinnen, freie, moderne Frauen. Ich nehme an, auch sie werden ihm | |
gewisse Dinge erklärt haben. | |
Zum Beispiel, dass Sex manchmal schlecht ist? | |
Zum Beispiel. Ich hasse Pauschalisierungen, aber ich glaube, Frauen tun | |
sich leichter damit, zuzugeben, dass es manchmal nicht funktioniert. Männer | |
stehen da unter einem anderen Leistungsdruck. Missglückter Sex ist eine | |
Niederlage, also beschreibt man nur großartigen – in der Pornografie wie in | |
der Literatur. Nur sind wir eben keine Sexmaschinen. Lawrence schien das | |
verstanden zu haben. Er wusste, dass man die weibliche Sexualität besser | |
begreift, wenn man die Fehlbarkeit des Aktes akzeptiert. | |
Entschuldigung, aber warum interessierte ihn das eigentlich so sehr? Das | |
scheint sogar aus heutiger Sicht ungewöhnlich. | |
Gute Frage. Ich bin nicht sicher, darauf eine gute Antwort zu haben. Anaïs | |
Nin meinte, er habe eine androgyne Schreibe, weil er seine Protagonistinnen | |
nicht wie ein Mann betrachtet, sondern durch sie zu empfinden schien. Man | |
sagt, das hinge mit einem homosexuellen Abenteuer zusammen. Ich denke eher, | |
dass es mit Frieda zu tun hat. In dem Moment, in dem er sich in eine Frau | |
wie sie verliebt, war er quasi dazu gezwungen, sich mit einer gewissen | |
Umkehrung der Machtverhältnisse durch die sexuelle Befreiung der Frau zu | |
beschäftigen. Er erlebte sie ja hautnah. | |
Sie schreiben, er habe früh verstanden, dass die sexuelle Freiheit in der | |
Emanzipation mehr Gewicht hat als der soziale Status. Denken Sie das | |
wirklich? | |
Sagen wir so: Ich glaube, es geht zusammen. Um sexuell frei zu sein, muss | |
man natürlich erst einmal finanziell frei sein. Das bedingt einander meist. | |
Allerdings bin ich als gute Freud-Schülerin davon überzeugt, dass die Lust | |
und die Suche danach der Motor für alles ist. Wir wollen frei sein, um | |
genießen zu können. Lesen Sie Autorinnen wie Colette oder Anaïs Nin: Der | |
Sex steht in ihrem Werk im Zentrum, ihre Freiheit definiert sich unter | |
anderem dadurch, dass sie ihr Recht auf Lust einfordern. | |
Anders als Sie hielt Colette Lawrence für einen Idioten. | |
(lacht) Das stimmt. Aber Colette mochte ja niemanden. Dabei hatten sie | |
viele gemeinsame Themen. Zum Beispiel die Frage nach den Vorbildern: | |
Colette machte sich oft über das damalige Ideal der „Garconne“ lustig, weil | |
sie fand, eine Frau, die sich dadurch befreit, dass sie sich als Mann | |
verkleidet, das könne es auch nicht sein. Lawrence sah das ähnlich. | |
Er schrieb sogar einen Artikel, in dem er fordert: „Gebt ihnen Vorbilder!“ | |
Das war sehr fortschrittlich. Ein Mann, der sagt: Frauen brauchen | |
Vorbilder, und zwar welche, die nicht von Männern erfunden sind. Damals gab | |
es die nicht. Jede Rolle, die man einnehmen konnte, war durch den | |
männlichen Blick geformt oder eine Nachahmung der Männer. Wir hatten keinen | |
Casanova. Heute ist das anders, die Vorbilder sind bunt und zahlreich. | |
Für einige Frauen sind Sie so ein Vorbild. Das der sexuell befreiten Frau. | |
Wenn wir den Feminismus à la Millet definieren müssten, wie würde er | |
lauten? | |
Oh, das ist schwierig. Ich muss gestehen, dass mein Interesse an Frauen | |
erst durch „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ geweckt wurde. | |
Wirklich? | |
Ich hatte natürlich immer Freundinnen, mit denen ich über Dinge sprach, | |
aber ich habe mich nie als Feministin gesehen. Die feministischen Kämpfe | |
meiner Generation waren mir auch, ehrlich gesagt, etwas suspekt. Nach | |
meinem Buch kamen aber all diese Frauen auf mich zu und wollten ihre | |
Geschichten mit mir teilen. Das hat mich ihnen nahegebracht. Der Essay über | |
Lawrence ist in gewisser Weise eine Folge davon. | |
Henry Miller sagte über Lawrence, er sei ein Frauenhasser. Darf man dies | |
nach all dem, was Sie sagen, nun ignorieren? | |
Miller war wesentlich misogyner als Lawrence. Er liebte die Frauen zwar, | |
aber auf sehr männliche, dominante Art und Weise. | |
Kürzlich erklärten Sie, Sie hätten sich nie benachteiligt gefühlt, nie den | |
Eindruck gehabt, man lege Ihnen Steine in den Weg, nur weil Sie eine Frau | |
sind. Für mich klang es fast wie eine Entschuldigung. | |
Wirklich? Nein, so würde ich es nicht sagen. Aber ich muss zugeben, dass es | |
manchmal komisch klingt. Ich habe mich nie unterdrückt gefühlt. Meine | |
männlichen Kollegen haben mich eher gefördert als in meiner Karriere | |
gehemmt. Das ist mein Glück, und es heißt natürlich nicht, dass ich | |
ignoriere, dass Missstände existieren. Aber es gibt dieses Interview mit | |
Simone de Beauvoir. Da fragt man sie, ob sie oft Opfer männlicher | |
Unterdrückung gewesen sei. Und sie antwortet einfach nur: Nein. Punkt. Mehr | |
nicht. Die Szene ist sehr lustig. | |
Würden Sie die Beziehung zwischen Mann und Frau also heute als egalitär | |
bezeichnen? | |
Wenn ich die jungen Paare um mich herum ansehe, dann sehe ich meist eine | |
Frau, die Karriere macht, sehr frei und unabhängig ist. Und einen Mann, der | |
ein schlechtes Gewissen hat. Weil sie die Kinder austrägt, weil sie die | |
Schmerzen der Geburt hat und so weiter. Mir scheint, als würden junge | |
Männer heute oft nicht wissen, wo ihr Platz ist. Sich nicht trauen, ihre | |
Freiheit zu leben, aus Angst, die der Frau dadurch einzuschränken. Mir | |
scheint in meinem Milieu derzeit, dass die Frau heute mächtiger ist. | |
Und finden Sie das gut? | |
Gut für die Frauen, ja. Aber mir gehen Männer mit schlechtem Gewissen auf | |
die Nerven. Ich fände es schön, wenn es ausgeglichener wäre. Ich weiß, das | |
ist sehr schwierig, aber wir sollten nie aufhören, danach zu suchen. | |
26 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Annabelle Hirsch | |
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