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# taz.de -- Kommentar #Womanspreading: Genauso daneben
> Frauen teilen Fotos von sich in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf denen
> sie ebenso breitbeinig sitzen wie manche Männer. Muss das sein?
Bild: Müssen sich jetzt auch Frauen ausziehen, um ein Zeichen zu setzen?
Von 2003 bis 2007 habe ich Gesangsunterricht genommen. Gut singen zu können
heißt nicht gleich gut beibringen zu können – meine erste Gesanglehrerin
war nicht die beste darin, Technik in die Worte zu fassen. Eher hatte sie
mir vorgeschlagen, gewisse Sachen nachzumachen, und so habe ich mich
gewöhnt, mit einer sahnigen Kopfstimme zu singen. Die Singstimme war weder
fest noch laut, und ich konnte nichts dafür, egal was ich versucht habe.
Als meine Theorielehrerin das merkte, hat sie mir eine andere
Gesanglehrerin vorgeschlagen. Diese neue Lehrerin war sehr gut darin, ihre
Gedanken zu artikulieren. Sie hat sofort festgestellt, was bei mir das
Problem war. Um der Stimme mehr Dichte geben zu können, hat sie mir
beigebracht, stark mit der Halsstimme zu singen. Irgendwann habe ich die
goldene Mitte erreicht, und war sehr glücklich darüber.
Um tief verwurzelte Probleme lösen zu können, braucht der Mensch also
manchmal extreme Maßnahmen der Gegenrichtung. Das machen zurzeit Frauen mit
„Womanspreading“, indem sie in den öffentlichen Verkehrsmitteln mit so weit
gestreckten Beinen sitzen, wie es sonst viele Männer tun. So wird versucht
klar zu machen, dass Männer mehr Raum in der Öffentlichkeit in Anspruch
nehmen, als ihnen zusteht. Die feministische Parole „Reclaim the night“ –
hole dir die Nacht zurück – wird hier in einem anderen Kontext in die
Praxis umgesetzt.
## Frauen sollen nicht auffallen
Der Raum in der Öffentlichkeit, der Frauen zugeschrieben wird,
unterscheidet sich enorm von dem, der Männern zusteht. Der Unterschied
lässt sich in vielen Bereichen beobachten, zum Beispiel daran, wie daneben
sich die Männergruppen leisten können in der Öffentlichkeit zu benehmen,
wie vor jedem Fußballspiel in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Szene,
dass betrunkene Männer, so laut, dass sie nicht noch lauter sein könnten,
so penetrant, dass ich mich so weit weg von ihnen hinsetze wie ich kann,
habe ich unzählige Male erlebt. Kein einziges Mal wurden diese Gruppen von
Mitfahrenden gewarnt, dass sie leiser sein, oder, dass sie sich gefälligst
weniger affig benehmen sollen. Kein einziges Mal. Das ist anders mit
Frauengruppen.
Jedes Mal wenn eine Gruppe von Frauen oder Mädchen etwas lauter und
auffälliger wird, fühlen sich Menschen drum herum berechtigt zu sagen, wie
sich diese stattdessen zu benehmen hätten, oder mindestens in sich hinein
zu meckern, mit der Zunge zu schnalzen, oder einfach die Augen zu rollen.
Das kenne ich sowohl von eigener Erfahrung, als auch von meinen
Beobachtungen im Alltag. Auch dagegen hilft, so häufig und penetrant zu
sein wie möglich. Die Gesellschaft hat sich daran zu gewöhnen, dass Frauen
nicht nur zuhause bleiben möchten, sondern auch mal raus, und das gerne
auch mal in Gruppen. Bei guter Laune auch gerne mal laut – deal with it –
das ist die Botschaft, die vermittelt werden soll.
Dass sich überhaupt irgendwer daneben benehmen muss, um ein Zeichen zu
setzen, ist selbstverständlich nicht ideal. Bei „Womanspreading“ geht es
nicht darum, dass sich alle Frauen unbedingt so asozial verhalten müssten
wie manche Männer, sondern darum, wie gewöhnlich und unhinterfragt das eine
bleibt, während das andere sofort Reaktionen auslösen kann. Wie viele
Konsequenzen für die eine Gesellschaftsgruppe in Frage kommen, während die
andere wortwörtlich überhaupt keine erleiden muss.
## Was bringt das, sich daneben zu benehmen?
Was die von „Womanspreading“ betroffenen Männer angeht: Klar können wir
infrage stellen, ob man künstliche Empathie erzeugen kann, wo sie nicht
schon vorhanden ist. Ob gewisse Menschen überhaupt dazu fähig wären etwas
daraus zu lernen, wenn sie genauso behandelt werden, wie sie andere
behandeln. Wenn wir mit einer Gruppe zu tun haben, die die blöde Anmache
auf der Straße für eine freundliche Geste hält, kann man sich auch fragen,
ob sich das überhaupt lohnt.
Die Antwort lautet: ja. Es lohnt sich. Es lohnt sich genauso wie die
Fahrrad-Proteste der Frauen in Iran, denen das Radfahren verboten wurde.
Ebenso wie die Demonstration der Frauen, die sich an Plätzen sammeln,
nachdem betroffene Frauen selbst für männliche Angriffe verantwortlich
gemacht werden. Es geht darum, nicht immer weiter zu schrumpfen, während
sich Männer immer breiter ausstrecken. Darum, die Geschlechterrollen zu
brechen, und sich gegen diese zu wehren, und nicht darum, sich wie Männer
zu verhalten, von der eigenen Weiblichkeit zu distanzieren, oder diese
überhaupt zu zerstören. Also bitte keine Panik: hier geht es nur um die
Forderung der Gleichbehandlung.
10 Dec 2017
## AUTOREN
Sibel Schick
## TAGS
Geschlechterrollen
Gleichberechtigung
Sigmund Freud
Gewalt gegen Frauen
Hasskommentare
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