# taz.de -- Philosoph Tristan Garcia über Konsum: „Intensität ist kontrapro… | |
> Der Rausch geht zu Ende. Tristan Garcia verabschiedet den höchsten Wert | |
> des modernen Lebens, um uns vor der Depression zu retten. | |
Bild: Philosoph Tristan Garcia: Mit intensivem Blick die Identitäten im Visier? | |
taz.am wochenende: Herr Garcia, man sagt Ihnen nach, dass Sie über viele | |
Themen reden können: Fußball, Punk, Adorno. Worüber reden Sie am liebsten? | |
Tristan Garcia: Punk. Ich bin in einer marxistischen Familie aufgewachsen, | |
als Kind habe ich die „Minima Moralia“ gelesen. In den 90ern haben viele | |
Leute Adorno wiederentdeckt, besonders im Musikjournalismus. Das ist der | |
Link zwischen Adorno und Punk. Autoren wie Greil Marcus oder Simon Reynolds | |
interessierten sich dafür, warum die Gegenkultur gescheitert ist, und | |
nahmen dafür Adorno in Anspruch, der Popkultur am kritischsten sah. | |
Hatte das Einfluss auf Ihr Schreiben, etwa auf Ihr Buch „Das intensive | |
Leben“ (2017), das sich auch mit Pop beschäftigt? | |
Viele dieser Autoren, etwa Mark Fisher oder Nick Land, haben die | |
Philosophie von Deleuze und seine Ideen von Oszillation oder Intensität | |
fetischisiert und Metaphysik, Politik und Ästhetik gemischt. Ich versuche, | |
die Diskurse nicht zu vermischen. | |
Wie beschreiben Sie Intensität? | |
„Intensität“ ist einer der magischen Schlüsselbegriffe, mit denen Waren | |
verkauft werden. Durch den Kauf wird eine intensive Erfahrung versprochen. | |
Intensität ist wie „Autonomie“ oder „Emanzipation“ einer der Begriffe,… | |
ihre Wurzeln in der Moderne des 18. Jahrhunderts haben und seit den 60er | |
Jahren zur Beschreibung von Waren dienen. Der Kapitalismus ist wie ein | |
Vampir, der immer neue Worte, Konzepte und Lifestyles braucht. | |
Wofür stand der Begriff ursprünglich? | |
In meinem Buch skizziere ich drei Figuren der Intensität. Die erste ist | |
eine aristokratische Figur aus dem 18. Jahrhundert, bei der Intensität mit | |
der Elektrifizierung verbunden wird. De Sade und viele freidenkerische | |
Pariser Autoren waren damals von der Elektrizität fasziniert. Im 19. | |
Jahrhundert gibt es eine bourgeoise Figur, den romantischen Dichter. Er | |
erlebt die Intensität durch die Natur, etwa ein Gewitter, und die Kunst des | |
Dichters. Im 20. Jahrhundert war der Teenager mit E-Gitarre die dominante | |
Figur der Intensität – eine demokratische Figur. Und sie ist auch die | |
letzte dieser Figuren: Sie alle stellten eine Avantgarde des intensiven | |
Lebens dar. Aber jetzt ist die Idee der Intensität demokratisiert und die | |
Intensität ist die Ethik der Mehrheit geworden: Der moralische Inhalt | |
dessen, was du tust, ist egal. Aber tue es aus vollem Herzen. | |
Wenn das intensive Leben so lange ein Ideal war, was sollte falsch daran | |
sein, wenn es jetzt für viele verwirklicht ist? | |
Es geht mir nicht um eine ethische oder moralische Kritik. Intensität ist | |
kein „falscher Wert“, von dem wir zu etwas anderem zurückkehren müssen, w… | |
viele reaktionäre Denker meinen. Stattdessen will ich die Logik dieses | |
Konzepts aufzeigen. Intensität ist kontraproduktiv: Wenn etwas immer | |
intensiver werden muss, wird es immer weniger intensiv werden. Letztlich | |
ist Intensität ein antiidentitäres Konzept. Es geht darum, immer anders | |
zu sein, einer neuen Intensität der Liebe oder der Musik hinterherzulaufen. | |
Das ist zum Scheitern verurteilt. Man kann Intensität nicht lange | |
aufrechterhalten. | |
Gibt es einen Zusammenhang zwischen dieser Logik und der Zunahme von | |
Depressionen? | |
Depression tritt dann auf, wenn es nichts mehr außer Intensitäten gibt. | |
Wenn alles intensiv ist, ist nichts mehr intensiv. Ich denke, Depression | |
ist der Ausdruck eines Widerspruchs zwischen etwas Endlichem – unserem | |
Körper – und dem modernen Versprechen von Unendlichkeit. | |
Was raten Sie? | |
Ich bin gegen philosophischen Rat für alle, kann aber meinen Mitphilosophen | |
einen Rat geben. Ich denke, wir sollten das Vokabular der Intensität wie | |
reine Differenz, Modulation, Oszillation weniger verwenden und wieder von | |
Gender reden anstatt von Genderifizierung. Das ist notwendig, weil die | |
reaktionären Denker smarter als wir geworden sind. Sie haben das Prinzip | |
der Intensität verstanden und versprechen eine Rückkehr zu einer | |
präintensiven Ethik von Seelenheil. Es war der große Fehler meiner | |
Generation, diese Reaktionäre nicht ernst zu nehmen. Wir sollten auch einen | |
Begriff wie Identität nicht aus dem Vokabular der Linken verbannen. Wir | |
brauchen eine neue Metaphysik, denn wenn wir diese nicht formulieren, wird | |
uns die Reaktion mit einer alten Metaphysik ausstechen. | |
Wer sind die reaktionären Denker? | |
Es ist eine Reaktion gegen Globalisierung und die internationale | |
Zirkulation von Begriffen. Sie sind eine Mischung aus Philosophen und | |
Journalisten, und sie erzählen alle das Gleiche: Wir sind zu weit gegangen. | |
Wir brauchen wieder Autorität statt Autonomie. Wir müssen die Einebnung der | |
Unterschiede von Mann und Frau bekämpfen. Wir brauchen Hierarchien. Es ist | |
ein Diskurs, der sich gegen die Spätmoderne und das Verschwimmen von | |
Grenzen richtet. Ich denke, wir müssen einen Weg finden, der zwischen einer | |
Kritik der Auflösung von Identität und der Wiedereinführung von Hierarchien | |
liegt: einer, der Kategorien als unterschiedlich, aber gleichwertig | |
betrachtet. | |
In der Linken werden Kategorien wie Geschlecht, Klasse oder Ethnizität | |
heute oft unter dem Schlagwort „Intersektionalität“ verhandelt. Was halten | |
Sie davon? | |
Das ist eine interessante Art, den politischen Raum zu vermessen. Am Anfang | |
war das eine Metapher von Kimberley Crenshaw, um sich zu fragen, woher es | |
kommt, dass schwarze homosexuelle Frauen oft ärmer waren als andere. Aber | |
es ist zu einer Art geometrischen Metapher geworden, mit der wir das | |
politische Imaginäre organisieren sollen. Häufig wird so getan, als sei nur | |
ein bestimmter Teil der Gesellschaft intersektional und ein anderer nicht. | |
Wir sollten ein anderes Bild entwickeln. | |
In Ihrem neuen, noch nicht übersetzten Buch „Nous“ suchen Sie nach einem | |
politischen „Wir“. Dieses „Wir“ wurde auf der Linken zuletzt am | |
erfolgreichsten von Jeremy Corbyn und dem Labour-Slogan „For the many, not | |
the few“ artikuliert. Was repräsentiert er damit? | |
Corbyn oder Jean-Luc Mélenchon in Frankreich sind ein wenig wie Bernie | |
Sanders: alte, weiße Männer, deren Gedächtnis mindestens 30 Jahre | |
politischer Kämpfe umfasst. Ich finde, dass alle drei verdeutlichen, dass | |
man Klassenkonflikte thematisieren kann, ohne dabei einzelne Identitäten zu | |
vernachlässigen. In Frankreich war das immer etwas schwieriger, weil unser | |
republikanisches Ideal davon ausgeht, dass man im politischen Raum nur ein | |
Individuum ohne Geschlecht oder Klassenzugehörigkeit ist. Die französische | |
Linke hat dieses Ideal oft geteilt, Mélenchon hat begriffen, dass | |
Identitäten auch wichtig sind. Viele in den nördlichen Banlieues von Paris | |
haben ihn gewählt, weil er gegen Le Pen und gegen Macron war. Aber das ist | |
eine sehr brüchige Allianz. | |
Woran könnte sie scheitern? | |
An der Arbeiterklasse, die unter der Deindustrialisierung leidet. Es gibt | |
keine Verbindung von ihr zu den arabisch und afrikanisch geprägten | |
Banlieues. Ich habe lange in Amiens unterrichtet und mich gefragt, welche | |
Musik die Familien meiner Studierenden hören. Die Banlieues haben R&B, | |
HipHop oder afrikanische Musik. Die weiße Arbeiterklasse kann keinen Rock | |
hören, denn er ist zu bourgeois und Elektro-Musiker wie Daft Punk oder Air | |
kommen aus der Oberschicht. Metal, die traditionelle Musik der | |
Arbeiterklasse, ist alt und tot. Und HipHop oder R&B hören sie nicht, weil | |
sie dafür zu rassistisch sind. Es kommt keine kulturelle Entwicklung aus | |
dieser Schicht, selbst der Slang der Jugendlichen ist heute arabisch | |
geprägt. Für mich war HipHop der letzte Ausdruck einer gemeinsamen Kultur. | |
Ich habe als weißer Mittelklasse-Jugendlicher in meinem Viertel andere | |
HipHop-Fans kennengelernt und so erfahren, dass Frankreich kein weißes Land | |
ist. Aber das ist heute vorbei. | |
28 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Christian Werthschulte | |
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