# taz.de -- Werke von und über Marcel Proust: Geld für den Puff | |
> Von allem was: Die neuesten Publikationen beschäftigen sich mit den | |
> Heldinnen seiner Bücher, Schachtelsätzen par excellence und Besuchen im | |
> Bordell. | |
Bild: Aufführung von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ bei der Ruhr… | |
Proust hat immer Saison. Der Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ | |
und sein mythenumrankter Autor sind ein unerschöpflicher Quell, nicht | |
zuletzt, was das Publikationspotenzial angeht. Auch abseits von Jubiläen | |
ebben die Neuerscheinungen nicht ab. Der diesjährige Literaturherbst aber | |
ist selbst für routinierte Proustianer besonders. | |
Da gibt es reizende kleine Bücher wie etwa „Marcel Proust und die Frauen“, | |
in dem die Romanistin Ursula Voß in konzentrierten Porträts weiblichen | |
Protagonistinnen aus dem Leben des Autors nachspürt – von der Haushälterin | |
Céleste Albaret bis zur großen Schauspielerin Sarah Bernhardt. | |
Eher etwas für Spezialisten ist Rainer Warnings Titel „Marcel Proust“. Mit | |
Foucault im Hinterkopf klopft der Literaturwissenschaftler das Werk auf | |
sogenannte Heterotopien ab, also zwischen Realität und Imagination | |
lokalisierte Orte, die als Gegenmodell zu gesellschaftlichen | |
„Platzierungen“ funktionieren. Das sind etwa Bordelle, wie sie nicht nur in | |
der „Recherche“ immer wieder eine große Rolle spielen, sondern auch in | |
Prousts Briefen. In einem berühmten vom 17. Mai 1888 bittet der klamme | |
Teenager seinen Großvater um Geld für einen Puffbesuch: „Ich hatte ein so | |
starkes Bedürfnis, eine Frau aufzusuchen, um mit meiner schlechten | |
Gewohnheit des Masturbierens aufzuhören …“ Die bislang größte auf Deutsch | |
vorliegende Briefauswahl deckt nun in zwei schmucken Bänden auf 1.500 | |
Seiten den Zeitraum von 1879–1922 ab. | |
Nach einem über zehn Jahre andauernden Arbeitsprozess hat Bernd-Jürgen | |
Fischer nun die vollständige Neuübersetzung der „Recherche“ abgeschlossen. | |
Ihr letzter Band, „Die wiedergefundene Zeit“, ist endlich erschienen – ru… | |
ein halbes Jahrhundert nach der ersten Gesamtübertragung Eva | |
Rechel-Mertens’, die Generationen deutscher Muttersprachler den Zugang zu | |
dem sieben Bände umfassenden Romankosmos ermöglichte. Wer die „Recherche“ | |
über Rechel-Mertens kennengelernt und sich später auch die revidierte | |
Ausgabe von Luzius Keller vorgenommen hat – die durch eine stark | |
abweichende Neuedition der französischen Originalausgabe notwendig geworden | |
war, welche nun auch Fischer als Vorlage diente –, liest die Neuübersetzung | |
natürlich nicht unbefangen. Dass Proust tatsächlich flüssiger lesbar | |
erscheint, mag auch daran liegen, dass vieles beim Wiederlesen | |
unwillkürlich vertraut ist. Da die „Recherche“ um das Erinnern vertrauter | |
Dinge und Eindrücke kreist – insbesondere auch Leseeindrücke –, ist das e… | |
schöner Nebeneffekt. | |
## Eine Art Jubiläum | |
Näheres ergibt der direkte Vergleich, der hier nur angerissen werden kann. | |
Erster-Satz-Fetischisten können schon einmal aufatmen. Der legendäre Beginn | |
des ersten Bandes – „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“ – blei… | |
unberührt. (Wobei aus Rechel-Mertens’ „In Swanns Welt“, der schönen, ab… | |
unpräzisen Übersetzung des schwierigen Titels „Du côté de chez Swann“, … | |
Luzius Keller „Unterwegs zu Swann“ wurde und bei Fischer, treffender, „Auf | |
dem Weg zu Swann“.) Nur ein kleines Beispiel: „Hatte ich mich nicht deshalb | |
immer so sehr für die Träume interessiert, die man während des Schlafes hat | |
…“, lautet der Anfang eines langen, prousttypischen Schachtelsatzes aus dem | |
Band „Die wiedergefundene Zeit“, in dem der Erzähler Marcel, bevor er Jahre | |
nach dem Ersten Weltkrieg ganz nach Paris zurückkehrt, einen | |
Sanatoriumsaufenthalt für eine Stippvisite unterbricht – und zwar im Jahr | |
1916, wir haben es also doch wieder mit einer Art Jubiläum zu tun. | |
Bei Proust steht: „Si je m’étais toujours tant intéressé aux rêves que … | |
a pendant le sommeil.“ Fischer nimmt dem Anfang immerhin schon mal einen | |
Nebensatz: „Wenn ich mich immer so sehr für Träume während des Schlafes | |
interessiert hatte …“. Näher am Original ist er damit allerdings nicht. | |
Deutlicher werden die Unterschiede im überzeugend modernisierten Vokabular. | |
So wird beispielsweise aus dem antiquiert klingenden „Männerantlitz“ | |
(Rechel-Mertens/Keller) ein „maskulines Gesicht“ (Fischer), das viel besser | |
mit Prousts „visage masculin“ übereinstimmt. Allerdings gibt es auch | |
zahlreiche fragwürdige Entscheidungen, bei denen die alte Übersetzung | |
überzeugender wirkt, und Beispielsätze, die die Neuübersetzung nicht | |
unbedingt notwendig erscheinen lassen. | |
Insgesamt aber liest sich Fischers Übersetzung nicht nur sehr gut, sie | |
liefert auch einen guten Grund, Proust wiederzulesen (oder auch erstmalig | |
zu lesen). Die Briefe – unter anderem an die Mutter, den Vater, an André | |
Gide, Jean Cocteau, den Verleger Gaston Gallimard und viele andere Freunde | |
und Verwandte – sind neben dem ausführlichen Anmerkungsapparat Fischers der | |
ideale Lektürebegleiter, da sie nicht nur die Entstehung eines der größten | |
Werke der Literaturgeschichte dokumentieren, sondern auch eigene | |
Interpretationsansätze enthalten. | |
Samuel Beckett übrigens nannte den Proust der Briefe einmal ein | |
„geschwätziges altes Weib“. Das ist alles andere als richtig – und um zu | |
diesem Urteil zu gelangen, sollte man die Briefe unbedingt lesen. | |
28 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Tobias Schwartz | |
## TAGS | |
Michel Foucault | |
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