# taz.de -- Hier lächelt die Schönheit der Welt: Sils Maria, das Mekka der In… | |
> Seit mehr als einen Jahrhundert kommen die Intellektuellen der Welt nach | |
> Sils Maria, suchen Erkenntnis und den Ort, wo Nietzsche und Proust Tränen | |
> der Rührung vergossen. | |
Bild: Silser See im Morgengrauen. | |
"S Bärebänkli" steht da geschrieben, kursive Lettern sind in die | |
Rückenlehne einer Holzbank gefräst; eine Bank am Ufer des Silsersees ist | |
es, eine Raststatt mit nichts als Wasser, Schilf und Bergen vor und einem | |
gewaltigen Himmel über sich. | |
Vier Seen von eisiger Klarheit liegen aneinandergereiht im Engadin in der | |
Schweiz, "6000 Fuß über dem Meere und viel höher über allen menschlichen | |
Dingen", glatte Wasserscheiben, verbunden durch einen schmalen Bergbach, | |
der später zu einem stattlichen Fluss werden und im fernen rumänischen | |
Sulina als Donau das Schwarze Meer speisen wird. Über den Julierpass | |
reisten sie früher schon, die Sommerfrischler, die Arglosen und | |
Vergeistigten, die Vergnügungssüchtigen und Ruhesuchenden, sie kamen per | |
Kutsche, auf Maultieren, zu Fuß. Nach dem Aufstieg in baumfreie Höhen fiel | |
ihr Blick hinunter auf diese weite Ebene, auf ein Hochplateau, an seinen | |
Enden von schroffen Bergen eingerahmt, Skulpturen der Erdgeschichte. | |
"Gesehen habe ich viele Landschaften und gefallen haben mir beinahe alle, | |
aber zu schicksalhaft mir zugedachten, mich tief und nachhaltig | |
ansprechenden, allmählich zu kleinen zweiten Heimatländern aufblühenden | |
wurden mir nur ganz wenige, und wohl die schönste, am stärksten auf mich | |
wirkende von diesen Landschaften ist das Obere Engadin", schrieb Hermann | |
Hesse. | |
Klangvolle Ortsnamen prägen das Oberengadin, dichte Häuseransammlungen | |
schmiegen sich an die Hänge und an die Seen: Samedan, Pontresina, St. | |
Moritz, Silvaplana. Es gibt Orte, die laut sind und schrill, wo Grandhotel | |
sich an Grandhotel reiht, wo Prada und Jean Paul Gaultier die Welt | |
beherrschen. Es gibt Dörfer für Familien, kindgerechte Apartments mit | |
Interieurs aus hellem Holz, daneben Clubsiedlungen für bunte Sportler, | |
dazwischen immer wieder pure Landschaft, ein paar Kühe. | |
Und es gibt Sils Maria. | |
Am Rand der Ebene, ganz weit hinten am letzten See, da liegt es, fernab | |
jeden Lärms. Sils, der Silsersee, das ist Privatheit, Introvertiertheit, | |
die Ebene findet ihr jähes Ende, wird blockiert durch schroffe Berge; führe | |
man weiter, stieße man auf den Malojapass, hinter dem Pass stürzt das | |
Bergell steil ab nach Italien, in den Süden mit all seinem lauten und | |
warmen Lebensgefühl, dem Gekreische und Gehupe. | |
Hier am Silsersee wird das Ich von den Felsen auf sich selbst | |
zurückgeworfen, der Mensch spaziert und sinniert. Stille muss ertragen | |
werden, Dunkelheit muss ertragen werden, die Gewalt der Natur muss ertragen | |
werden, das Entflammen der Lärchenwälder im Spätherbst, bevor sie in den | |
Winter gehen, das Changieren der Farben, erst Gelb und dann Tiefrot, als | |
brennten die Hänge des Tals. Nietzsche kannte diese Zeit des Übergangs | |
nicht, sein Engadin war das sommerliche Engadin, eine grüne, strahlende, | |
vor Kraft strotzende Bergwelt mit kurzstieligen, fetten Blumen, die sich | |
durch dichte Behaarung vor der Sonne schützen. Nietzsche war ein | |
Sommergast. "Nachher gieng ich hinaus - und siehe da! der schönste Tag, den | |
ich im Engadin gesehen habe, - eine Leuchtkraft aller Farben, ein Blau auf | |
See und Himmel, eine Klarheit der Luft, vollkommen unerhört", schrieb er an | |
Meta von Salis, regelmäßige Besucherin im Ort auch sie. Allein war er | |
nicht, Sommerfrischler stiegen ab in den wenigen Hotels, durchschritten die | |
Weiden, eilten um die bewaldete Halbinsel Chastè, manche so wie er, um | |
sechs Uhr in der Früh. Im Hotel Alpenrose aß er zu Mittag, und auch das | |
Hotel Edelweiss steht heute noch da, einer der massigen Bauten an der | |
schmalen Dorfstraße, fernab vom Durchgangsverkehr des Tals. Eine kluge Tat | |
der Gemeinde, einfach die Straße sperren, eine Sackgasse bilden, Sils ist | |
Endstation. Hierher kommt nur, wer hierher will. Geruhsam ist es, nicht wie | |
in St. Moritz, das schon zu Nietzsches Zeit ein Trubel war, 900 Kutschen am | |
Tag sollen durch die steilen Straßen der Stadt gefahren sein, so schrieb er | |
seiner Mutter. | |
Das Wetter kommt von Westen, Nebel steigt vom Bergell her auf, blassweiße | |
Hüllen kriechen über den Malojapass, sinken langsam in Richtung des Sees | |
und schaffen es doch nicht, ihn ganz zu überwölben. Der Nebel schleicht | |
zwischen den Bäumen, die Realität verwischt, der Mensch wird zu einem Teil | |
der Landschaft, es ist ein leichtes Gehen, schwebend fast auf den weichen, | |
gelben Nadeln, die bald vermodern und verrotten, so wie man selbst bald | |
vermodert, was zählen schon Lebensjahre in dieser Landschaft, die uns mit | |
ihrer Ewigkeit provoziert? | |
Es scheint eine Manie erwachsen zu sein in Sils Maria, eine jährlich sich | |
steigernde Flut von Bänken, ein jeder will sich anscheinend seiner selbst | |
erinnern. Dick sind sie, halbe Baumstämme, gelb lasiert, grob und | |
ungeschlacht, so gezimmert, dass ihnen Regen und Schnee nichts anhaben | |
sollen, Monumente der eigenen Vergewisserung. An mancher Stelle steht noch | |
ein altes Bänklein mitten im Wald, mit zarten Latten, die Gravuren schon | |
verwittert; sie erzählen von so vielen Orten, sprechen über so viele | |
Biografien, werden vergehen, die schmalen Bretter früher noch als die | |
dicken Stämme, Schriften im Kampf gegen die Vergänglichkeit, an | |
Tätowierungen erinnernd. | |
Zwei Gebäude sind es, die den Ort prägen, ein schmuckes, kleines unten im | |
Dorf und das mächtige, burleske oben auf dem Fels. Sils scheint nur aus der | |
Spannung dieser beiden Bauten zu bestehen, der Rest ist Staffage. Weder die | |
Engadiner Bauernhäuser noch die neuen Siedlungen, weder die Seilbahn noch | |
das Parkhaus sind von Bedeutung, alles ist wegzudenken, denn bestimmt wird | |
Sils Maria vom Grand Hotel Waldhaus oben und dem Nietzschehaus unten. Zwei | |
Geschosse, kleine Lochfenster mit grünen Fensterläden in dicken, weißen | |
Mauern, ein Schieferdach. Im Innenraum eine bebrillte Frau, die dem | |
Gesprächspartner am Telefon ihr Leid klagt: 17 Besucher am Tag à 5 Franken. | |
Da kommt nicht viel zusammen. Einst hatte hier im Erdgeschoss Gian Durisch | |
einen Gemischtwarenladen, im oberen Stock war das Fremdenzimmer, Nietzsches | |
Zimmer. Auf dem Weg hinauf ein halbes Dutzend nasser Schuhe auf grauen | |
Fliesen vor einer Tür, auf der ein Schild klebt: Privat. Dahinter ein | |
Gästezimmer, gemietet von Studenten, Gelehrten, Bildungsbürgern; Leuten, | |
die dem Geiste Nietzsches nahe sein wollen, wobei der Geist verschwunden zu | |
sein scheint hinter all den Briefen, Bildern und Büchern, die in den | |
beklemmend kleinen Räumen liegen, hängen oder zum Verkauf angeboten werden. | |
Um die 600 Tage hat Nietzsche in Sils Maria gewohnt, in einem Zimmer, so | |
dunkel, "niedrig und gedrückt", dass der Kontrast zu der freien und hellen | |
Landschaft nicht größer sein könnte. Ein einziges Fenster gestattet einen | |
Ausblick auf ein paar Bäume und eine graue Felswand, feucht vom Wasser des | |
Flüsschens, das aus dem Fextal kommt, ein schattiges Gegenüber, letztlich | |
ein bedrückender Ort, ein bedrückendes Haus, da helfen auch die Geranien | |
nichts, die vor den kleinen Fenstern hängen und dem Bau einen Anstrich von | |
biederem Mief geben, dem Häuschen seine Schlichtheit nehmen; ein | |
Wallfahrtsort sähe wohl lieber anders aus. | |
Denn gekommen sind sie in Scharen, seit mehr als einem Jahrhundert, die | |
Intellektuellen aus der ganzen Welt, auf der Suche nach dem Ort der | |
Erkenntnis. Sie haben geschrieben, gemalt und komponiert, Filme gedreht, | |
Sätze in Gedenksteine meißeln lassen - "Oh Mensch! Gieb acht! Was spricht | |
die tiefe Mitternacht?" - und Kongresse veranstaltet. Abgestiegen sind sie | |
erst in kleineren Häusern, seit 1908 dann mit Vorliebe im Hotel Waldhaus, | |
dem einzigen Engadiner Grandhotel, dessen Geschick nach wie vor in den | |
Händen einer begnadeten Familie liegt; ein monumentaler Bau mit Türmen und | |
Erkern, mit Balkons und Veranden, einer Burg gleich, die das ganze Tal | |
beherrscht. Das große Waldhaus wäre ohne das kleine Nietzschehaus nicht | |
denkbar, doch Sils Maria wäre ohne das Waldhaus nicht denkbar. Es sind | |
Namen wie Honegger, Mann, Reinhardt, Fischer, Klemperer, Ullstein, Sacher, | |
Heuss, Moravia, Morante, Adorno, Szondi, Celan, Hesse, Chagall, Kästner, | |
Jünger, Dürrenmatt, Wolf, Bowie und Bondy, die zum Ruhm des Hauses | |
beitrugen, das in diesem Juni seinen hundertsten Geburtstag feiert. Sie | |
begegneten sich hier, flohen voreinander oder wanderten gemeinsam. Das | |
Waldhaus ist der diskreteste Ort des Bürgertums, eine Legende, sich der | |
eigenen Bedeutung und Vergangenheit gewiss, so gewiss, dass sogar die | |
Bescheidenheit unprätentiös wirkt. Das prägnanteste Geräusch ist nach wie | |
vor das Geläut der Pferdekutschen, die um das Haus herumziehen auf ihrem | |
Weg vom Dorf ins Fextal; immer noch sitzen die Besucher lesend in den | |
tiefen Sesseln auf Perserteppichen im Salon, rühren um vier Uhr beim | |
Nachmittagskonzert in Tassen, viele von ihnen kommen alle Jahre wieder, | |
Stammgäste, dem Haus treu verbunden, manche seit Generationen schon, | |
gefesselt von der Kontinuität des Geistes dieser Räume. Von den Kellnern | |
geht einer in seine siebenundfünfzigste Saison, die drei Musiker spielen | |
winters wie sommers seit Jahrzehnten auf, kamen schon hierher, als man von | |
ihrem Heimatland noch als Ostblock sprach. | |
Steil fällt der Berg ab vom Waldhaus, geht in die nahezu baumlose Ebene | |
über, am Rand das Haus von Annemarie Schwarzenbach, hier verbrachte sie | |
ihre Tage mit Erika und Klaus Mann im Rausch der Drogen, der Freundschaft | |
und der Berge. Daneben der Silsersee in seinem klaren Eisblau. Ein einziges | |
Schiff darf darauf fahren, früher war es ein Ruderboot, heute ist es ein | |
gedecktes Motorboot, winzig klein, die höchstgelegene Schifffahrtslinie | |
Europas soll es sein. An den Ufern dieses Gewässers sind viele schon | |
gegangen. "Eines Abends war die Stunde uns besonders günstig. In den | |
wenigen Augenblicken des Sonnenuntergangs durchlief das Wasser alle | |
Farbtöne, unsere Seelen die ganze Stufenleiter der Wonne. Plötzlich wandten | |
wir uns um, da sahen wir einen kleinen Schmetterling daherkommen, dann | |
zwei, dann fünf, wie sie die Blumen an unserem Gestade verließen, um über | |
dem See sich zu wiegen. Bald schienen sie eine unfassbare Wolke | |
fortgewehter Rosen, bald landeten sie an den Blumen am anderen Ufer, sie | |
kamen zurück, um von neuem sanft ihre abenteuerliche Überfahrt zu wagen, | |
und bisweilen zögerten sie, verlockt, über dem kostbar getönten See, der in | |
seinen Farben einer großen sterbenden Blüte glich. Das war zu viel, unsere | |
Augen füllten sich mit Tränen." | |
Marcel Proust war es, der so zu Tränen gerührt war, aber nicht nur er fing | |
hier an zu weinen, dieses Tal ist ein Ort des Sentiments, zu groß ist seine | |
Schönheit, zu klein fühlt sich darin der Mensch. Es ist, als ob es hier nur | |
um Ewigkeit und Sterblichkeit, um den Rhythmus der Natur ginge, den ewig | |
wiederkehrenden. | |
"Ich hatte jedesmal den Tag vorher auf meinen Wanderungen zuviel geweint, | |
und zwar nicht sentimentale Thränen, sondern Thränen des Jauchzens; wobei | |
ich sang und Unsinn redete, erfüllt von einem neuen Blick, den ich vor | |
allen Menschen voraus habe." Als ihn am 6. August 1881 der Gedanke der | |
ewigen Wiederkehr des Gleichen überfallen hatte, stand Nietzsche vor einem | |
Stein, der aussieht wie ein kleines Matterhorn, ein mannshohes spitzes | |
Stück Fels am Ufer des Silvaplanersees, unauffällig gelegen im Schatten | |
einer Eberesche. Wer nicht vom Stein von Surlej weiß, geht daran vorbei, | |
keine Tafel weist auf Nietzsche hin. Im Winter kriechen 3.000 Autos Tag für | |
Tag den Hügel zum Parkplatz der Bergbahn hoch und wieder hinunter; in | |
Surlej hat das moderne Leben das Engadin überrollt, während drüben in Sils | |
Maria Natur und Mensch mehr im Gleichtakt schwingen, die Nacht nicht | |
überstrahlt werden will und die Stille nicht übertönt. Wären da nur nicht | |
die Bänke, die Sils zu überwuchern drohen, es könnte alles ganz bescheiden | |
sein. | |
"Drücken wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben!", forderte Nietzsche. | |
Es scheint sich um ein Missverständnis zu handeln; hier wird das Abbild | |
unserer Leben in Holz gedrückt, gestiftet von Menschen mit einer leisen | |
Hoffnung auf Ewigkeit. | |
29 Feb 2008 | |
## AUTOREN | |
Zora Del Buono | |
## TAGS | |
Tourismus | |
Michel Foucault | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Leben in abgeschiedener Gemeinschaft: Von Klosterfrauen erprobt | |
Für die einen ist häusliche Isolation schwer zu ertragen, für die anderen | |
ein selbstgewählter Lebensstil. Besuch im Frauenkloster St. Johann. | |
Werke von und über Marcel Proust: Geld für den Puff | |
Von allem was: Die neuesten Publikationen beschäftigen sich mit den | |
Heldinnen seiner Bücher, Schachtelsätzen par excellence und Besuchen im | |
Bordell. |