# taz.de -- Jochen Schimmangs Werk: Das kostbare Glück | |
> Zwischen Melancholie und subversiver Renitenz: Der Schriftsteller und | |
> gelegentliche taz-Autor Jochen Schimmang feiert seinen 70. Geburtstag. | |
Bild: Sind sie die happy few? | |
Er ist nicht der Schlüsselbegriff, taucht aber oft auf im Werk des | |
Schriftstellers Jochen Schimmang und vermag es in seiner Ambivalenz auch zu | |
repräsentieren: happy few impliziert die Anwesenheit von Glück, aber auch, | |
dass es nur wenige sind, die dieses Glücks teilhaftig werden. Leider trifft | |
Letzteres auf die Rezeption Schimmangs zu: Es sind nun mal keine Massen, | |
die seine Bücher wahrnehmen, doch die, welche es tun, würden sich | |
zweifellos uneingeschränkt als glückliche Leser und Leserinnen bezeichnen. | |
Vor allem macht sich der „Literaturbetrieb“ wieder mal unverzeihlicher | |
Ignoranz schuldig: Auszeichnungen wie der „Rheingauer Literaturpreis“ oder | |
ein „Rheinischer Literaturpreis“ – das ist ja schön und gut, aber | |
entschieden zu wenig angesichts eines Autors, der seit vier Jahrzehnten die | |
deutsche Literatur um in einer allein schon preiswürdig eleganten Sprache | |
geschriebene Romane, Erzählungen, Hörspiele, Aufsätze und Buchbesprechungen | |
(auch für die taz) bereichert. | |
Es begann mit einem respektablen Erfolg: Mit seinem Debütroman „Der schöne | |
Vogel Phönix“ traf der 1948 im südniedersächsischen Northeim geborene, seit | |
Jahren in Oldenburg lebende Schimmang (vermutlich unbeabsichtigt) 1979 so | |
etwas wie den „Zeitgeist“. In den „Erinnerungen eines Dreißigjährigen“ | |
(Untertitel) erzählt er von einem, der in Wilhelmshaven bei der Bundeswehr | |
Dienst tut, während andernorts turbulente Geschichte gemacht wird. | |
Verspätet kommt der Held dann auch nach Berlin und nimmt als | |
K-Gruppen-Mitglied teil an der ausfransenden 68er-Ära. | |
Das ist allerdings nur der Anfang einer komplexen Geschichte, die bis heute | |
zitiert wird als Schlüsseltext jener mit Schlagworten wie der „Neuen | |
Subjektivität“ verbundenen späten Siebziger und die im Übrigen einen | |
Figuren-Typus aufweist, wie wir ihm noch oft bei Schimmang begegnen. | |
Dieser typische „Held“ ist männlich, leidenschaftlicher Kinogänger und | |
zitierfreudiger Literaturkenner (Beckett, Proust, Robert Walser), er | |
schätzt gutes Essen und Reisen (England, Belgien), flaniert aufmerksam | |
durch die Städte, die er liebt (Amsterdam), ist ein schwärmerischer | |
Liebender, zugleich aber unverbesserlicher Einzelgänger, der seine | |
Auszeiten und kleinen Fluchten braucht. Zudem ist er gleichermaßen mit | |
Kritischer Theorie und Poststrukturalismus wie mit den Herrlichkeiten von | |
Alltagsvergnügungen (Fußball) vertraut, sozialisiert in den 60ern, beglückt | |
in den 80ern, zu Hause in den Landschaften der Ebenen und Grenzregionen. | |
So einer ist zum Beispiel Gregor Korff, Hauptfigur des Romans „Das Beste, | |
was wir hatten“ (2009), der mit all den anderen Schimmang’schen | |
Protagonisten (und ja, also auch mit deren Schöpfer) viel gemeinsam hat, | |
angefangen mit der Berliner K-Gruppen- und Freizeitfußballvergangenheit. | |
Korff zieht dann aber, wie es sich gehört, in den Westen, avanciert zum | |
Ministerberater, erlebt als solcher die „Wende“ und das Entstehen eines | |
keinesfalls begrüßten wiedervereinigten Deutschlands, wird Opfer eines | |
privaten und beruflichen Verrats und taucht durchaus einverstanden ab ins | |
Privatiersdasein. | |
## Ein ausgesprochen politisches Werk | |
Korff, dessen Geschichte ein Abgesang auf die aus heutiger Sicht angenehm | |
unaufgeregte Kultur der alten Bundesrepublik und in weiten Teilen deren | |
genaue Chronik ist, begegnen wir wieder im zuletzt erschienenen Roman | |
„Altes Zollhaus, Staatsgrenze West“ (2017), in dem sich Jochen Schimmang | |
die Freiheit herausnimmt, die Welt so zu malen, wie sie sein sollte: Aller | |
finanziellen Sorgen ledig, zieht sich Korff in ein altes Zollhaus an der | |
deutsch-niederländischen Grenze zurück, frönt seinen Leidenschaften (Kino, | |
Literatur, kleine Fluchten, Sie wissen schon) und wird zum Mittelpunkt | |
eines locker assoziierten Kreises Gleichgesinnter. | |
Auf verspielte Weise changiert dieses schmale Buch zwischen einem | |
melancholischen Alterswerk (wie ja Melancholie überhaupt eine vertraute | |
Schimmang-Stimmung ist) und subversiver Renitenz. Denn nicht nur, weil es | |
der Verweigerung, dem Verstecken, Sichentziehen gewogen ist, handelt es | |
sich bei Jochen Schimmangs Werk um ein ausgesprochen politisches. | |
Wem das in den erzählenden Büchern entgehen sollte, der findet die | |
Schimmang’sche Haltung in zwei Büchern, in denen der sonst so dezente Autor | |
Klartext redet: in den autobiografischen Skizzen „Grenzen, Ränder, | |
Niemandsländer“ (2014), in denen er zum Beispiel seiner Empörung über die | |
Niederschlagung des britischen Bergarbeiterstreiks und die neoliberale | |
Politik Thatchers kräftigen Ausdruck verleiht, zuvor in „Vertrautes | |
Gelände, besetzte Stadt“ (1998). | |
Dort zitiert er Vilém Flusser, der feststellte, die „Geste des Schreibens“, | |
sei „im Begriff, eine archaische Geste zu werden, durch die sich eine | |
Seinsweise äußert, die durch die technische Entwicklung überholt ist. Und | |
natürlich bekennt sich Jochen Schimmang als einer jener „happy few, die | |
diese archaische Geste nicht verlassen wollen und deren ganzes Glück sie | |
ist, ein mehr und mehr verschwiegenes Glück und deshalb umso kostbarer“. | |
Am 14. März wird Jochen Schimmang 70. Und alle happy few wünschen happy | |
birthday. | |
14 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Thomas Schaefer | |
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