# taz.de -- Buch über die Geschichte der 68er: Die Befreiung der Gesellschaft | |
> Heinz Bude veröffentlicht in seinem Buch „Adorno für Ruinenkinder“ einen | |
> Remix früherer Interviews und fragt sich, wieviel 1945 in 1968 steckt. | |
Bild: In Bremen protestrierten sie 1968 gegen Fahrpreiserhöhungen. Senatorin A… | |
Unter den deutschen Soziologen ist Heinz Bude bekanntlich der | |
Generationenexperte. Er hat sogar eine eigene Generation kreiert, die | |
Generation Berlin, deren Typus der „unternehmerische Einzelne“ sei. Das war | |
im Jahre 2001. Um die geht es hier aber nicht, sondern, aus jubilarischem | |
Anlass, um die „Achtundsechziger“. | |
Mit ihnen hat Bude sich schon früher mehrfach beschäftigt und mit einigen | |
davon in den späten achtziger Jahren lange Gespräche geführt. Auf diese | |
Gespräche wirft er im neuen Buch, das er selbst ehrlicherweise einen Remix | |
nennt, einen neuen Blick, unter der Fragestellung: „Was hat die Jahrgänge | |
von 1938 bis 1948 überhaupt angetrieben?“ | |
So behauptet es wenigstens der Klappentext, ganz zutreffend ist das nicht. | |
Keine(r) der von Bude damals Interviewten – drei Männer, zwei Frauen – ist | |
später als 1940 geboren, die Mehrheit von ihnen vaterlos und/oder Kinder | |
von Nazis, überzeugten oder opportunistischen. Ihre Geschichten | |
rechtfertigen das im Titel genannte Attribut der Ruinenkinder durchaus. | |
Ihre Kindheits- und Jugenderfahrungen sind aber zwangsläufig andere als die | |
eines 1948 Geborenen, der wie ich als Sechzehnjähriger noch im Schoß der | |
Familie den Anfangsakkord von „A Hard Day’s Night“ hörte, mit dem „196… | |
recht eigentlich angefangen hat. | |
Das sind jedoch keine ernsthaften Einwände gegen Budes Remix, gegen seine | |
erneute Reflexion dieser Gespräche und den Versuch, vorsichtige | |
Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Das Buch trägt den bescheidenen | |
Untertitel „Eine Geschichte von 1968“ und behauptet also nicht, die | |
Geschichte von 1968 zu erzählen, wie es andere für sich beansprucht haben. | |
## Die „coole Revolte“ will Befreiung | |
Dass 1968 etwas bedeute, dass es bei Anhängern wie Kritikern „ein begehrtes | |
Gut“ sei, das stehe außer Zweifel, schreibt Bude in seinem ersten Resümee, | |
und weiter: „Aber was haben die Leute im Kopf, wenn sie 1968 verteidigen, | |
bekämpfen, beanspruchen oder sich darüber lustig machen?“ Bude zitiert Paul | |
Veyne, nach dem 1968 „das letzte heiße revolutionäre Ereignis und die erste | |
coole Revolte“ gewesen sei. „Die coole Revolte“, so liest Heinz Bude das, | |
„will nicht die Herrschaft an sich reißen, sondern das Leben ändern“. Sie | |
will Befreiung. | |
Ein solcher Wille kann nur spürbar auftreten, wo, pointiert gesagt, die | |
Psychologie, und damit das Nachdenken über die „Existenz“, abtritt und die | |
Soziologie, und damit das Nachdenken über die „Gesellschaft“, an ihre | |
Stelle tritt. „Gesellschaft“ war ein Begriff, der noch in den frühen | |
Sechzigern gewissermaßen die Geheimwissenschaft eines kleinen Zirkels um | |
das Frankfurter Institut für Sozialforschung war, während andernorts das | |
Denken weiter um das Sein und das Nichts kreiste. Über Gesellschaft dachte | |
Adorno 1965 in einem Artikel für das Evangelische Staatslexikon (!) nach. | |
Da war er schon kein Geheimtipp mehr, sondern ein Star, und die Gespräche | |
in diesem Band zeugen auf vielfache Weise von der Faszination, die „der | |
kleine Mann mit den großen Augen“ ausstrahlte. In den Vorlesungen, erzählt | |
etwa Peter Märthesheimer, sei es wie in der Oper gewesen, er habe den Text | |
nicht verstanden, aber die Musik mitsingen können. | |
Klaus Bregenz dagegen, Sohn eines Drehers und mit einem eigenen kleinen | |
Büro im Institut, verstand den Text sehr wohl: „Einerseits war es so, dass | |
ich ihm nicht zuhören konnte, weil mich dieses Imponiergehabe so aggressiv | |
machte. Andererseits habe ich schon immer gewusst, wovon er redet. Das ist | |
eine ganz merkwürdige Sache.“ | |
## Plagiat und Fragment | |
Doch zurück zur Wachablösung bei den Begriffen (und den Disziplinen). Man | |
könne diesen Sprung von der „Existenz“ zur „Gesellschaft“ nicht wichtig | |
genug nehmen, resümiert Bude, und dann: „Die Gesellschaft ist dabei ein | |
merkwürdiges Ding. Sie ist der Grund von Unheil und Unglück und zugleich | |
der Schauplatz von Ausbruch und Aufbruch.“ Wobei den Gesprächen zu | |
entnehmen ist, wie oft dieser Aufbruch ästhetisch vermittelt war. | |
Es geht viel um Film(e) in diesen Gesprächen; Märthesheimer hat bekanntlich | |
Drehbücher für Fassbinder geschrieben, unter anderem auch für die große | |
Nachkriegserzählung „Die Ehe der Maria Braun“, und es ist durchaus | |
einleuchtend, dass Budes Buch mit diesem Film beginnt. Insofern ist es auch | |
leicht erklärbar, dass Adorno, der Künstlerphilosoph par excellence, eine | |
solche Rolle spielt und es bis in den Titel geschafft hat. | |
Der Umschlag des Buches ist, völlig legitim, ein so herrlich freches | |
Plagiat der Bibliothek Suhrkamp, mit dem Streifen im unteren Drittel und | |
der klassischen Willy-Fleckhaus-Schrift, dass man spontan Beifall klatschen | |
möchte für diese Hommage an die „Suhrkamp-Kultur“. Die dann von der | |
„Merve-Kultur“ abgelöst wurde, theoretisch wie ästhetisch. Deshalb folgt | |
auf das erste Resümee, aus dem ich zitiert habe, das Gespräch mit Peter | |
Gente, dem Gründer des Merve-Verlags, bevor es ein weiteres Resümee gibt, | |
in dem der Generationenexperte Bude die heutigen Jungen ins Visier nimmt, | |
denen es nicht mehr um die Befreiung der Gesellschaft gehe, sondern unter | |
anderem um Gerechtigkeit für abweichende Lebensentwürfe. | |
Das könnte auch daran liegen, dass „Gesellschaft“ nach ihrer zunehmenden | |
Fragmentierung heute viel schwerer zu erkennen ist. Im schlimmsten Fall | |
nämlich könnte Margaret Thatcher mit ihrem Satz „There’s no such thing as | |
society“ posthum recht behalten. Dann wären wir zurück bei der „Existenz�… | |
Oder beim unternehmerischen Einzelnen. | |
4 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Jochen Schimmang | |
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