Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Soziologe über die neue Mittelklasse: „Der Unterschied liegt in …
> Andreas Reckwitz erforscht die Gegenwartsgesellschaft. Er analysiert,
> wieso es zu Konflikten zwischen den Klassen kommt.
Bild: Offene Küche und Freelance: Das Leben der neuen Mittelklasse
taz: Herr Reckwitz, wie sieht Ihre Küche aus?
Andreas Reckwitz: Warum fragen Sie?
Sie schreiben von offenen Küchen als neuem Trend in der neuen
Mittelschicht. Zu denen wir ja alle gehören. Man erkennt sich in ihren
Beschreibungen wieder – meine Wohnungswahl in Nordneukölln hatte etwas mit
der offenen Küche zu tun.
Ich habe keine offene Küche. Ich mag es, wenn die Küche vom Wohnzimmer halb
abgetrennt ist. Wenn man in meine Wohnung rein kommt, tritt man nicht
sofort in die Einbauküche hinein. Insofern bin ich untypisch.
Erkennen Sie sich an anderen Punkten in dem Buch, an denen Sie die neuen
Mittelschichten beschreiben?
Natürlich. Viele der Leser und auch ich als Autor sind natürlich in die
neue Mittelklasse einzuordnen. Aber als Soziologe hat man ja einen fremden
Blick auf das Eigene. Da erkennt man Strukturen hinter den vertrauten
Phänomenen des Alltags.
Aber das eigene Milieu ist ja das kulturell dominante Milieu, oder?
Die neue Mittelklasse prägt die Konsumpräferenzen, teilweise die medialen
Darstellungen, sie hat auch in der Politik einen starken Einfluss auf die
Parteien und Themen. Durch ihre hohen Bildungsabschlüsse hat sie eine
starke Stellung in allen Bereichen. Sie ist so etwas wie das
Schlüsselmilieu dieser spätmodernen Gesellschaft. Dennoch darf man sich
eben nicht nur ein Milieu anschauen, sondern muss eine Kartografie der
Milieus oder der Klassen entwerfen, die die Gegenwartsgesellschaft
ausmachen. Daran fehlt es, wir haben in der soziologischen Analyse keine
Klassenmodelle mehr. Wir haben stattdessen lange über eine Pluralisierung
der Lebensstile geredet: viele bunte Milieus, die nebeneinander existieren.
Oft ist auch die Rede von der Krise der Mittelschicht, man weiß aber nicht,
was an deren Stelle getreten ist. Deshalb ist eine Kartografie der
Gegenwartsgesellschaft wichtig. Ich würde hier ganz grundsätzlich zwischen
neuer Mittelklasse, alter Mittelklasse und neuer Unterklasse als den drei
großen Formationen unterscheiden, plus der winzigen Oberklasse.
Was unterscheidet die neue Mittelklasse von der der 70er Jahre?
Helmut Schelsky hat in den 50er Jahren richtigerweise von der nivellierten
Mittelstandsgesellschaft gesprochen. In der Nachkriegszeit gab es eine
relativ egalitäre, kulturell homogene Gesellschaft. Das ist seit den 70er
Jahren langsam aufgebrochen. Deshalb macht es keinen Sinn mehr, von der
Mittelschicht als einheitlichem Block zu reden. Die neue Mittelklasse hat
sich aus der alten herausentwickelt, sie hat teilweise eine neue Struktur.
Drei Faktoren sind dafür verantwortlich: Erstens die
Postindustrialisierung, also die Entwicklung weg von der klassischen
Industriegesellschaft hin zur Wissensökonomie – ein breiter, expandierender
Zweig von Berufen, in denen Akademiker beschäftigt sind. Damit
zusammenhängend die Bildungsexpansion. Die neue Mittelklasse ist mit hohem
kulturellem Kapital ausgestattet, also in der Regel mit
Hochschulabschlüssen. Drittens der Wertewandel weg von reinen Pflichtwerten
zu Werten der Selbstentfaltung und Individualität. Dieser Wertewandel wird
entscheidend von der neuen Mittelklasse getragen.
Die Einflüsse der neuen Mittelklasse gehen bis weit in die CSU, aber in der
Mitte thronen die Grünen. Richtig?
Wenn man das parteipolitisch und auf Deutschland beziehen will: ja. Die
neue Mittelklasse bedeutet zunächst einen lebensweltlichen Wandel, auf dem
dann die politischen Einstellungen draufsitzen. Ihr Lebensgefühl ist ein
anderes als das der alten Mittelklasse. Es ist kosmopolitischer,
internationaler, liberaler. Damit gibt es eine neue politische
Konfliktlinie, welche die klassische Links-rechts-Konfliktlinie
durchschneidet. Die Kosmopoliten sind für Öffnung in vielerlei Hinsicht:
der Identitäten, auch der Märkte, gegen zu starke Ordnung, gegen zu starke
Regulierung. Liberalisierung im weitesten Sinne des Wortes eigentlich. Die
Grünen sind in der Tat am ehesten die Partei der neuen Mittelklasse. Aber
auch die SPD hat Wähler dort, die Union, die FDP natürlich, auch die
Linkspartei.
Sie schreiben, die Mittelklassen hatten in den 70er Jahren keine Lust mehr
auf eine egalitäre Gesellschaft – weil ihnen die kulturelle Egalität nicht
gepasst hat. Warum gehen Sie von einer bewussten Abkehr von der Egalität
aus?
Das ist eher eine indirekte Abkehr. Die Industriegesellschaft hatte
gewissermaßen zwei Seiten: Egalitarismus und Konformismus. Das war eine
relativ egalitäre Gesellschaft und gleichzeitig auch eine kulturell sehr
konformistische Gesellschaft. Es herrschte ein starker Anpassungsdruck.
Warum dieses Modell erodiert ist, hatte mehrere Gründe. Die Vorgänger der
heutigen neuen Mittelklasse sind die revoltierenden Akademiker Ende der
60er, Anfang der 70er Jahre. Deren Kritik an der industriellen Moderne
bezog sich nicht auf den Egalitarismus, sondern auf den kulturellen
Konformismus. Am Ende haben sie den Egalitarismus mit abgeräumt. Denn
dieser kulturelle, antikonformistische Wertewandel ist mit der ökonomischen
Entwicklung der 70er Jahre zusammengetroffen – der Krise des Fordismus, als
das industrielle Wirtschaftsmodell nicht mehr expansionsfähig war.
Dann kam [1][der Neoliberalismus] …
… und die Transformation der Ökonomie in Richtung Postindustrialismus: weg
von der Industrieökonomie hin zum kognitiven Kapitalismus – mit der neuen
Polarität zwischen den Hochqualifizierten der Wissensökonomie und den
Niedrigqualifizierten in den einfachen Dienstleistungen. Der Begriff
Neoliberalismus allein ist mir hier zu eng, um diese ökonomische
Entwicklung zu beschreiben. Aufs Politische übersetzt heißt das aber: Der
antikonformistische Linksliberalismus und der antiegalitäre Neoliberalismus
haben sich als die beiden Flügel einer Bewegung der Öffnung und
„Deregulierung“ dargestellt, die zur heutigen Gesellschaftsform geführt
haben.
Grüne und FDP.
So könnte man sagen, wenn man es parteipolitisch übersetzt. Das scheint
verwirrend: Zwei Richtungen, von denen man denkt, sie sind miteinander
verfeindet, gehören aus größerer Distanz betrachtet zusammen – als Elemente
eines tiefgreifenden Liberalisierungsprozesses.
Ihre These ist, für die neue Mittelklasse ist heute Singularität,
Einzigartigkeit wichtig. Bei Wohnungen, Kultur oder auch im Tourismus.
Städtereise statt Mallorca. Aber ist das Reiseziel Berlin nicht das
Mallorca der neuen Mittelklasse?
Die Singularität, die Besonderheit oder Einzigartigkeit, liegt im Auge des
Betrachters. Es gibt keine objektive Einzigartigkeit. Sie hängt also ab von
komplizieren Bewertungsprozessen, die auch sehr mobil und veränderlich
sind. Kritik am Konformistischen ist gewissermaßen Teil des
Singularitätsspiels. Dann fährt man nicht mehr nach Berlin, sondern nach
Lissabon. Im Übrigen: dass etwas von vielen Menschen präferiert wird, macht
es ja nicht unbedingt weniger singulär: dass Bob Dylan so beliebt ist,
rüttelt nicht an seinem Status als außerordentlich. Er ist dann eben ein
Klassiker.
Wo ist die alte Mittelklasse geblieben?
Der Unterschied liegt nicht so sehr im Einkommen, im Materiellen, sondern
in der Kultur, im Lebensmodell. Das der neuen Mittelklasse ist eines der
Selbstverwirklichung, kombiniert mit Erfolg und Prestige. Also
Bürgerlichkeit und Bohème in einem. Die alte Mittelklasse ist eher über
Statusinteresse und Selbstdisziplin definiert. Es geht um einen bestimmten
Lebensstandard, nicht um die immaterielle Lebensqualität, die für die neue
Mittelklasse so wichtig ist. Die alte Mittelklasse ist bildungsmäßig eher
mittel und deutlich weniger mobil als die neue Mittelklasse, auch häufiger
im ländlichen Bereich angesiedelt. Sowohl bildungsmäßig als auch räumlich
repräsentiert man nicht mehr die Mitte der Gesellschaft. Die ehemaligen
Bildungsabschlüsse „der Mitte“ verlieren angesichts der Akademisierung an
Wert.
Welche sind das?
In Deutschland wäre das eine Berufsausbildung, ein Haupt- oder
Realschulabschluss.
Und die Unterschicht?
[2][Die neue Unterklasse] ist eine neue Klasse so wie die neue Mittelklasse
neu ist: Menschen, die häufig im Bereich der sogenannten einfachen
Dienstleistungen arbeiten. Das Hamburger Institut für Sozialforschung
spricht vom Dienstleistungsproletariat. Dazu gehören auch Menschen, die
nicht am Arbeitsmarkt aktiv sind. Man muss sich durchwursteln, mit der
ständigen Gefahr von Lebenskrisen umgehen. Die Selbstverwirklichung der
neuen Mittelklasse erscheint aus Sicht der Unterschicht als
Paralleluniversum.
Warum knallt es jetzt politisch zwischen den drei Klassen?
Die Frage scheint mir fast: Warum hat es so lange nicht geknallt? Diese
drei sozialen Großgruppen haben sehr unterschiedliche Lebenswirklichkeiten
– das baut sich schon seit mehreren Jahrzehnten auf. Die eine Gruppe, die
neue Mittelklasse, kann sich als Teil und Träger des Fortschritts der
westlichen Moderne nach dem Mauerfall sehen, der Liberalisierung, des
Bildungsfortschritts etc.. Die beiden anderen Klassen sehen sich eher in
einer manifesten oder latenten Situation von Entwertung. Die neue
Unterklasse ist sozial deklassiert. Die alte Mittelklasse, die materiell
noch relativ gut dasteht, sieht sich häufig in einer kulturellen Defensive
gegenüber den Liberalisierungsprozessen. Diese Polarisierung von
Lebenswelten und -gefühlen setzt sich in eine Polarisierung von politischen
Einstellungen um. Der Aufstieg des Rechtspopulismus ist international ein
Ausdruck dieser Entwertungserfahrungen. Es gibt aber Anzeichen, dass der
liberale Wertecluster der neuen Mittelklasse sich selbst verändert.
Woran machen Sie das fest?
An der öffentlichen Diskussion über die Krise des Liberalismus. Das
betrifft interessanterweise den Wirtschaftsliberalismus und den
Linksliberalismus gleichermaßen. Nehmen wir als Beispiel den Wohnungsbau in
Berlin. Auch die neue Mittelklasse ist durch die eklatanten
Mietpreissteigerungen betroffen. Sodass sie sieht: Wir brauchen
Rahmenbedingungen, eine Mietpreisbremse etwa. Und auch die Frage nach
gemeinsamen Regeln des zivilen Zusammenlebens wird ja lebensweltlich sehr
akut, wenn man etwa zur Zielscheibe der Enthemmung im Internet wird. Dass
die Liberalisierungen durch neue Regulierungen ausbalanciert werden müssen,
wird so immer deutlicher.
2 Aug 2018
## LINKS
[1] /Debatte-Neoliberalismus/!5144895
[2] /Debatte-Faschismus-und-Klassen/!5454393
## AUTOREN
Martin Reeh
Jan Feddersen
## TAGS
Soziologie
Mittelschicht
Klasse
Identitätspolitik
Knapp überm Boulevard
Populismus
Liberalismus
Buch
Schwerpunkt 1968
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
## ARTIKEL ZUM THEMA
Austausch über Krise der Linken: Gefangen im Nebenwiderspruch
Sahra Wagenknecht und Wolfgang Engler diskutieren über die Krise der
Linken. Wagenknecht macht die Identitätspolitik als Hauptgrund aus.
Wie viel Luxus dürfen Politiker zeigen?: Das Verachten der Aufsteiger
Wo macht der Urlaub, was fährt die für ein Auto? Die richtige Karte der
Klassenzugehörigkeit zu spielen, ist für Politiker ein komplizierter
Prozess.
Populismus aus Sicht eines Politologen: „Es geht nicht um alte weiße Männer…
Die Globalisierung stärkt im Süden der EU Linkspopulisten, im Norden
Rechtspopulisten. Der Politikwissenschaftler Philip Manow erklärt, warum.
Gastkommentar zur Sozialdemokratie: Der Sieg des Liberalismus war keiner
Linker Realismus – das wäre der richtige Weg für die politische Linke.
Stattdessen waltet der „Hochmut der Vernünftigen“ – und erzeugt
Trotzreaktionen.
Elf Bände von Wolfgang Pohrt: Wunderbar, dieses Kapital
Er kritisierte den Antisemitismus der Linken und las zuletzt Marx gegen die
Marxologen. Nun erscheinen die gesammelten Werke Wolfgang Pohrts.
Buch über die Geschichte der 68er: Die Befreiung der Gesellschaft
Heinz Bude veröffentlicht in seinem Buch „Adorno für Ruinenkinder“ einen
Remix früherer Interviews und fragt sich, wieviel 1945 in 1968 steckt.
Forscherinnen über Political Correctness: „Gender ist symbolischer Klebstoff…
Gender Studies? Sind das nicht diese politisch Korrekten? Zwei
Geschlechterforscherinnen sprechen über das Image ihres Fachs und den Kampf
um Deutungsmacht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.