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# taz.de -- Gastkommentar zur Sozialdemokratie: Der Sieg des Liberalismus war k…
> Linker Realismus – das wäre der richtige Weg für die politische Linke.
> Stattdessen waltet der „Hochmut der Vernünftigen“ – und erzeugt
> Trotzreaktionen.
Bild: Der Sieg des neoliberalen Liberalismus hat die Welt nicht befreit, sonder…
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bejubelte man im Westen Anfang der
1990er-Jahre den Sieg des Liberalismus. Die Demokratie und der Kapitalismus
hätten die epochale Schlacht um das richtige System für sich entschieden.
Jede historische Verklärung der Sowjetunion verbietet sich zwar angesichts
der Willkür des Staats und der ökonomischen Not vieler seiner Bürger. Das
heutige Russland ist – trotz aller Defizite – ein besseres Land, als es die
Sowjetunion je war. Das gilt noch mehr für einige ehemalige
Satellitenstaaten. Dennoch gibt es deutliche Rückschritte.
Polen, die Slowakei, Ungarn oder Tschechien, die lange als Musterbeispiel
einer Demokratisierung galten, erleben einen heftigen Rollback. Etliche
GUS-Staaten werden von Autokraten oder Diktatoren regiert. In den Staaten
der ehemaligen Sowjetunion war der Sieg des Liberalismus keiner.
Dies gilt umso mehr für die ganze Welt. Der „Kampf der Kulturen“ ist kein
pessimistisches Horrorszenario mehr. Der Politologe Samuel Huntington,
Schöpfer dieser These, wurde in den 1990er Jahren noch als notorischer
Mahner diffamiert. Schließlich war doch die Mehrzahl aller
Politikwissenschaftler und Journalisten im Rausch des vermeintlichen Siegs
des Liberalismus beseelt von der Idee, dass nun alles gut würde. Der
Kosmopolitismus als Form eines liberalen Internationalismus entstand in den
90er-Jahren. In den 90er Jahren durfte man hoffen. Damals schien das
„goldene Zeitalter“ keine Utopie zu sein.
## Der Neoliberalismus bestimmte die Politik
Vielleicht waren die 90er-Jahre die schönste Zeit für alle Idealisten der
Welt. Selbst die Linken befanden sich im Rausch des Liberalismus. Sie haben
daher nur allzu naiv enorme Deregulierungen des Markts mitgemacht oder gar
forciert. Der Neoliberalismus war auf einmal das neue Emanzipationsding.
Dieser bestimmte die Politik – von Mitte-links bis Mitte-rechts.
Überhört blieb so etwa Willy Brandts Mahnung vom Herbst 1991, wo er über
die Wirksamkeit des demokratischen Sozialismus sinnierte, den er stets als
Freiheitskampf verstand. Er sagte damals, es werde sich noch „als
geschichtlicher Irrtum erweisen, das dem demokratischen Sozialismus
zugrunde liegende Ideal – die Zusammenfügung von Freiheit, Gerechtigkeit,
Solidarität – als überholt abtun zu wollen“.
Weil Sozialdemokraten – national wie international – das aber vergaßen,
wurde auch im Westen nichts aus dem Sieg des Liberalismus. Denn wo Freiheit
in einem substanziellen Sinne nur die wenigen haben, kann der Liberalismus
nicht siegen. Dort wird der Liberalismus vielmehr zu einem Instrument, um
eine Neofeudalgesellschaft möglich zu machen, und somit zum
Herrschaftsinstrument einer globalen Elite. Der Sieg des neoliberalen
Liberalismus hat die Welt nicht befreit, sondern eine neue Spaltung
erzeugt.
Das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama), von dem (neo)liberale Denker
und Politiker fantasierten, hat sich daher als naive Chimäre erwiesen.
Liberale Werte allein sind nicht genug, um die Demokratie stabil zu halten.
Wo die Demokratie nicht „Wohlstand für alle“ schafft, sondern eine Zwei-
bis Dreiklassengesellschaft wiederauferstehen lässt, ist sie nicht stabil.
Und neue Klassengesellschaften lassen sich mittlerweile in so gut wie allen
liberalen Demokratien beobachten.
## Revolte gegen den Liberalismus
So verwundert es kaum, dass Bernie Sanders und Teile der Labour-Partei
„Sozialismus“ als Kampfbegriff wiederentdecken, um zu symbolisieren, dass
der Freiheitskampf noch nicht zu Ende ist, und das vor allem in
sozioökonomischer Hinsicht. Freiheitskampf als reines
Liberalisierungsprojekt – in kultureller wie wirtschaftlicher Hinsicht –
hat zu dessen Gegenteil geführt: nämlich zu einer Revolte gegen den
Liberalismus.
Eine Kombination aus ökonomischem Neoliberalismus und postmodern geprägtem
Linksliberalismus ließ eine neue Regression im Schatten der liberalen Ära
wachsen und spülte in vielen Ländern Rechtspopulisten an die Regierung. So
wuchs durch mehr und mehr Liberalisierung die Antithese zum Liberalismus
heran. Das verwundert nicht. Denn als reines Liberalisierungsprojekt kann
der Freiheitskampf nicht erfolgreich sein.
For the many, not the few. Nur so kann der Freiheitskampf gelingen. Als
sozialdemokratisches und solidarisches Projekt. Naiver (Neo-)Liberalismus
und Kosmopolitismus werden die westlichen Demokratien dagegen weiter
schwächen.
Aber ein naiver diffuser Liberalismus ist immer noch in der kulturellen
Hegemonie. Die neuen Liberalen von Mitte-links sind heute darin verliebt,
von der Aufgabe globaler Gerechtigkeit und Internationalisierung zu
schwärmen. Aber weil sie ihre Systemkritik größtenteils aufgaben, bleibt
ihnen nur, darauf zu hoffen, dass sich ihre Vorstellungen von „globaler
Gerechtigkeit“ durch die Macht der globalen Zivilgesellschaften von allein
realisieren. Was sie wollen, ist ein „guter Kapitalismus“. „Gute“
Unternehmer und die Arbeit von NGOs würden schon diejenigen Kapitalisten
ständig ermahnen, die noch nicht verstanden haben, dass sie sich nicht
alles nehmen dürfen, was sie bekommen können.
## Sympathische Verwalter des Status quo
Heute sind Liberale oft auch nur noch kulturelle Kosmopoliten, die etwa
über die Bedeutung der EU moralisieren und für einen internationalen Fokus
werben. Konkrete Lösungen für mehr globale Gerechtigkeit haben sie kaum.
Obgleich ihre kosmopolitischen Ideale gerade an der Realität zerbersten,
können sie auch nicht anerkennen, dass der Nationalstaat heute immer noch
viel tun kann. Der Blick auf die Möglichkeiten des Nationalstaates ist
ihnen verstellt.
Der Soziologe [1][Wolfgang Streeck hat daher recht], wenn er fordert, mehr
im Nationalstaat zu regeln, um dem auswildernden Neoliberalismus etwas
entgegenzusetzen. Und zwar jetzt und konkret.
Das bedeutet nicht etwa, sich von der EU zu verabschieden, sondern nur, die
Realität zur Kenntnis zu nehmen, dass der große Wurf mit Europa in
absehbarer Zeit nicht gelingen wird und der Nationalstaat gerade das
einzige Instrument ist, mit dem sich hierzulande etwas sofort substanziell
zum Besseren wenden lässt.
Wer hingegen nur aus kosmopolitischem Antrieb abwartet, bis überall die
Macronisten an die Schaltstellen der Macht kommen, um den großen
kosmopolitischen Traum weiter voranzutreiben, wird erstens zwischenzeitlich
eine härtere Regression miterleben und zweitens am Ende einsehen müssen,
dass gerade die Macronisten nicht jene „globale Gerechtigkeit“
hervorbringen können, die man von ihnen erwartet. Die Macronisten sind nur
die sympathischeren Verwalter des Status quo.
## „Hochmut der Vernünftigen“
Im Macronismus drückt sich par excellence aus, was zurzeit durch liberale
Kräfte sehr oft passiert. Sie führen einen Verteidigungsdiskurs für die
offene und liberale Gesellschaft und merken nicht, dass sie durch eine oft
rein werteorientierte und zum Teil belehrende Haltung diese offene und
liberale Gesellschaft auch kaputtverteidigen können.
Viele Menschen haben den Eindruck, dass die Profiteure der Globalisierung
nur den Status quo bewahren wollen. Denn über Ökonomie und Soziales wird
wenig gestritten. Vielmehr lautet die Formel einer liberalen Elite: „Seht
doch bitte ein, dass die jetzige offene und liberale Gesellschaft die
Ultima Ratio ist. Seid doch bitte gefälligst liberal. Lauft nicht den
Rattenfängern von rechts hinterher. Bitte denkt doch so wie wir.“ Die
Botschaft ist: Wir denken richtig. Denkt so wie wir.
Aber dieser Verteidigungsdiskurs funktioniert nicht. Der „Hochmut der
Vernünftigen“ (Hans Monath) erzeugt sogar Trotzreaktionen. So wird die
offene Gesellschaft von der liberalen Elite „zu Tode verteidigt“, wie
[2][Monath in einem Essay für den Tagesspiegel schrieb]. Das Problem für
die westlichen Demokratien sind also nicht nur Rechtspopulisten, sondern in
gewisser Weise auch die Demokraten der liberalen Elite.
## Was aber tun?
„Sagen, was ist“ (Rudolf Augstein) ist der richtige Ausgangspunkt für einen
neuen Aufbruch. Brexit, Trump, Le Pen, aber auch die Ankunft der
Flüchtlinge 2015 sind ein Einbruch der Wirklichkeit in die
liberal-postmoderne kulturelle Hegemonie, die dazu neigt, sich die Welt
schönzureden.
Diese Schönrednerei ist das Ergebnis einer „liberalen Illusion“. Es gilt
aber, die Wirklichkeit aufzunehmen: „Alle große politische Aktion besteht
in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische
Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und dem Bemänteln dessen, was
ist.“ Das sagte der Mitbegründer der Sozialdemokratie, Ferdinand Lassalle,
einst. Es könnte aktueller nicht sein. Von der Wirklichkeit muss die Linke
ausgehen. Darin besteht sogar schon, wie die linke Rosa Luxemburg einst
sagte, die „revolutionärste Tat“, nämlich darin „immer das laut zu sage…
was ist“.
## Wirtschaftspolitische Alternative zum Marktradikalismus
So ein „linker Realismus“ ist [3][Sozialdemokratie schlechthin]. Erst
sagen, wo die Probleme sind, und dann sie beheben – auch gegen Widerstand
des „Großkapitals“. Linker Realismus, das wäre der momentan richtige Weg
für die politische Linke.
Die Aufgabe ist allerdings nicht nur ein neuer realistischer Kurs in der
Migrations- und Integrationspolitik. Viel entscheidender für die Linke (zu
der die SPD gehört) ist jetzt, die „soziale Frage“ zu thematisieren und ein
wirtschaftspolitisches Alternativkonzept zum Marktradikalismus anzubieten.
So könnte das gehen: 12 Euro Mindestlohn, Steuererhöhungen für Reiche, ein
New Deal für Integration, ein New Deal für bezahlbaren Wohnraum, neue
konzertierte Aktionen für die Zukunft der deutschen Industrie, eine neue
sozialdemokratische Digitalpolitik. Der Staat muss zurückkommen. Auch und
gerade national.
Freiheit und sozialen Fortschritt muss man erkämpfen. Am besten fängt man
im Nationalstaat damit an. Man muss aber dort ja nicht aufhören.
11 Aug 2018
## LINKS
[1] /Debatte-Europa-und-die-EU/!5318871
[2] https://www.tagesspiegel.de/politik/political-correctness-der-hochmut-der-v…
[3] /Aus-Le-Monde-diplomatique/!5476419
## AUTOREN
Nils Heisterhagen
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