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# taz.de -- Soziologin über die urbane Mittelschicht: „Viele Linke machen si…
> Cornelia Koppetsch erforscht das Milieu der urbanen Mittelschicht. Die
> Soziologin erläutert, warum Gleichberechtigung bei Paaren oft eine
> Illusion ist.
Bild: Offen, aber nicht für alle: Laut Koppetsch grenzt sich die urbane Mittel…
taz am wochenende: Frau Koppetsch, Sie bescheinigen der urbanen
Mittelschicht Spießigkeit, Angepasstheit und die Rückkehr zu konservativen
Werten. Wer sind diese sogenannten Kosmopoliten, die Sie in Ihren Büchern
beschreiben?
Cornelia Koppetsch: Als Kosmopoliten bezeichne ich die akademisch
gebildete, zumeist in urbanen Zentren ansässige Mittelschicht, die sich an
Werten wie Toleranz und Weltoffenheit orientiert, politisch interessiert
und zivilgesellschaftlich engagiert ist. Angepasst sind sie insofern, als
dass sie durch Selbstoptimierung und unternehmerisches Handeln das Projekt
des Neoliberalismus verinnerlicht haben, auch wenn sie diesem eigentlich
kritisch gegenüberstehen und sich gegen eskalierende Ungleichheiten
aussprechen. Doch verhalten sich [1][linksliberale Werte] zum neuen
Kapitalismus wie ein Schlüssel zum Schloss.
Sie meinen Werte wie Selbstverwirklichung, Kreativität, Toleranz und
Diversity?
Ja. Das sind ja genau die Schlagworte, die sich der neue Kapitalismus auf
seine Fahnen geschrieben hat. Die linksliberalen Werte sind der Motor der
Globalisierung. So haben sich einst alternative Lebensformen in ihren
Strukturen überall in der Wirtschaft etabliert.
Sie sprechen über Menschen, die so sind wie Sie und ich. Aber da gibt es
doch Unterschiede, oder? Es gibt Leute, die der Union nahestehen,
FDP-Wähler, Grüne oder Linke.
Die gibt es. Nur: Linke Werte sind ein Teil des herrschenden Apparats
geworden. Viele Linke sind ja selbst Gatekeeper in den staatlichen oder
öffentlichen Institutionen. Sie arbeiten als Pädagoginnen, Sozialarbeiter,
Journalistinnen, Sozialwissenschaftler, Lehrerinnen und so weiter. Sie
beherrschen die öffentliche Meinung und sind genau das, was heute die
Rechtspopulisten spöttisch als pädagogisches Establishment bezeichnen.
Hinzu kommt: Die Kosmopoliten stehen als Kreative, Wissenschaftler,
Ingenieurinnen oder Juristen an der Spitze der kapitalistischen
Wertschöpfungskette und erzielen hohe symbolische wie auch ökonomische
Profite aus einem Kapitalismus, der auf Ideen und Innovationen basiert.
Schließlich zeigen sich auch innerhalb der Linken Klassenspaltungen.
Meinen Sie den Streit um die politisch korrekte Gesinnung?
Ja, eher gemäßigte und radikale linke Milieus driften auseinander. Das
passiert nicht nur in den Städten, sondern auch an den Universitäten, wo
Studierende regelrechte Internet-Feldzüge gegen Dozenten anführen, die in
ihren Lehrveranstaltungen die Klassiker ihres Faches zu Wort kommen lassen,
das heißt: überwiegend weiße, männliche Autoren.
Auch der Feminismus ist gespalten, wie die Diskussion nach den
Silvesterereignissen in Köln 2016 zeigte …
Die eine akademische Fraktion von Feministinnen sieht in den Reaktionen auf
Köln und den Kommentaren der Medien vor allem Rassismus am Werk. Sie warnen
vor einem falsch verstandenen Feminismus, der die Täter rassifiziert. Eine
andere, damals von [2][Alice Schwarzer] angeführte Fraktion gibt dagegen zu
bedenken, dass die Übergriffe in Köln nicht völlig von den kulturellen
Prägungen der Jungmänner, die allesamt aus archaisch-bäuerlichen
Gesellschaften stammen, zu trennen sind. Dabei muss man noch gar nicht den
Islam bemühen.
Und warum die verhärteten Fronten?
Das ist ein sehr interessantes Thema. Aktuell beobachten wir einen
generellen politischen Klimawandel. Nach zwei Jahrzehnten einer
Konsenskultur der Mitte erleben wir heute das Gegenteil, nämlich eine
Eskalation von ideologischen und politischen Auseinandersetzungen: links
gegen rechts, der linke Rand gegen den linksliberalen Mainstream, Muslime
gegen Juden, Inländer gegen Ausländer, Frauen gegen Männer, Männer gegen
Frauen. Der Ton wird schärfer, und Identitätsprobleme sind virulent wie nie
zuvor.
Die Differenzen im Aufruhr. Wie erklären Sie das?
Dafür gibt es zwei Ursachen. Zum einen kämpfen spätmoderne Menschen unter
Bedingungen beschleunigter Veränderungsprozesse um die Aufrechterhaltung
eines minimalen Standards an Identität. Wer diesen Standard preisgibt, wird
irgendwann verrückt. Zum anderen ist vielen Menschen klar, dass die Zukunft
völlig ungewiss ist und damit auch die Zukunft ihrer eigenen Gruppe. Wer
weiß schon, ob in zehn Jahren noch Lehrstühle für Geschlechterverhältnisse
oder Kultursoziologie besetzt werden, wer weiß, ob wir in Fragen der
Gleichberechtigung nicht vor einem riesengroßen Rollback stehen. Wer weiß
schon, ob Juden wieder einer verstärkten Diskriminierung in Europa
entgegensehen oder ob es diesmal die Muslime trifft. Und wer weiß, wie sich
das Verhältnis zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, zwischen dem globalen
Norden und dem globalen Süden weiter entwickelt. Alles erscheint unsicher.
Weil man die Zukunft nicht kennt, ist es ratsam, für die Rechte der eigenen
Gruppe auch mit politischen Mitteln zu kämpfen.
Eine Art Selbstvergewisserung also?
Ja, hinzu kommt, dass die Frage, wie man zum Islam und zu den Muslimen
steht, ein Lackmustest für die moralische Selbstverortung geworden scheint.
Damit wird aber eine sachliche Auseinandersetzung verhindert. Dies hängt
mit der tribalistischen Spaltung der Gesellschaft in zwei antagonistische
Lager zusammen. Der eine Stamm sieht sich als Verteidiger der liberalen
Demokratie, die sich die Öffnung von Grenzen und Identitäten auf ihre
Fahnen geschrieben hat. Der andere Stamm sieht sich als Verteidiger des
gesellschaftlichen Status quo, den es gegenüber dem bedrohlichen Außen und
den zerstörerischen Entwicklungen in der Zukunft zu schützen gilt.
Sie forschen gerade über Rechtspopulismus und die gefährdete Mitte. Kann
man mit Rechten denn diskutieren?
Das wäre zumindest ein Schritt in Richtung Überwindung der Spaltung. Ihre
Ausgrenzung aus dem Diskurs erscheint mir als komplett falscher Weg. Weil
man damit bestätigt, was die Rechte von sich denkt: dass sie marginalisiert
und ausgegrenzt wird. Damit wird sie in der Rolle einer märtyrerhaften
Protestpartei bestätigt. Man könnte sie etwa fragen, warum seht ihr die
Flüchtlinge als Hauptproblem, habt ihr keine anderen Sorgen?
Haben die Rechten keine anderen Sorgen?
Leider werden sie darin durch den aktuellen Politikbetrieb und die Medien
bestätigt. In den letzten Monaten dominierten Themen der Asylpolitik die
Schlagzeilen. Vor allem der Umstand, dass Asylbewerber oft mit dem Thema
Gewalt in Verbindung gebracht werden, obwohl die Kriminalitätsstatistik
keineswegs darauf hindeutet, dass Gewalttaten verstärkt von Asylsuchenden
begangen werden, ist hier fatal. Scheinbar ist es einfacher, über Muslime
und Migration als über wirklich wichtige Fragen wie etwa Europa,
Globalisierung, [3][soziale Gerechtigkeit oder Mietpreisbremsen] zu
diskutieren. Man könnte meinen, dahinter steckt ein Ablenkungsmanöver auch
seitens der bürgerlichen Parteien.
Und der Begriff Heimat hat Hochkonjunktur. Dabei wäre Heimat da am
konkretesten, wo ich mir eine Wohnung leisten kann.
Der Begriff der Heimat hat seine Unschuld verloren, er ist nicht mehr nur
eine harmlose Form der sentimentalen Selbstverortung, sondern ein Begriff
der politischen Abschottung geworden. In dieser Eigenschaft wird er von den
Kosmopoliten auch kritisiert, die dagegen Weltoffenheit und Toleranz
halten. Allerdings ist das nicht weniger weltfremd, da Solidarität stets
auf soziale Exklusivität angewiesen ist. [4][Es gibt keine solidarische
Weltgemeinschaft].
Die Kosmopoliten nutzen andere Möglichkeiten der Abschottung?
Sie bewohnen die attraktiven Kieze und Innenstadtquartiere, die inzwischen
so hohe Mieten und Immobilienpreise aufweisen, dass sich soziale
Exklusivität wie von selbst einstellt. Zu den wirkungsvollsten
kosmopolitischen Grenzanlagen gehört die kapitalistische Ausrichtung des
Lebensstils. Kulturelle Offenheit wird somit kompensiert durch ein
hochgradig effektives Grenzregime, das über Immobilienpreise und Mieten,
über ein sozial und ethnisch hoch selektives Bildungswesen sowie über den
Zugang zu exklusiven Freizeiteinrichtungen und Clubs gesteuert wird. Die
Abgrenzung erfolgt nicht nach außen, denn hoch qualifizierte MigrantInnen
sind hier selbstverständlich willkommen, sondern nach unten.
Für die Kosmopoliten, die Welterfahrenen, bedeutet Heimat allenfalls die
Liebe zum regional produzierten Schwarzbrot?
Ja, und die Heimatsuchenden betrachten sie mit Herablassung. Aber sie haben
gut reden, da sie zumeist keine Berührungspunkte mit Migranten aus dem
globalen Süden aufweisen. Die Perspektive auf die Dinge ändert sich
umgehend, wenn ich mit Asylsuchenden in Konkurrenz um Sozialtransfers,
Wohnungen, Sexualpartner oder Jobs treten muss.
Besteht denn tatsächlich eine Konkurrenz?
Diese Konkurrenz kann auch dann gegeben sein, wenn gar kein persönlicher
Kontakt besteht. Viele empfinden es verständlicherweise als ungerecht, dass
die Neuankömmlinge Anspruch auf dieselben Leistungen haben, während sie
selbst viele Jahre in die Sozialkassen eingezahlt haben. Aber es geht auch
um die Verfügung über Kultur und Identität. Die Eliten haben diese
jedenfalls, sie gestalten ihre städtischen Quartiere weitgehend autonom,
sie gestalten ihre Heimat selbst.
Wir, die urbane Mittelschicht, sind also längst davon korrumpiert, Elite zu
sein?
Wir sollten uns zumindest selbstkritisch hinterfragen.
Sie sind eine weibliche Soziologin, die in den Medien zu Wort kommt. Sie
sind damit eine Ausnahme, denn in der großen Gesellschaftstheorie
beherrschen nach wie vor Männer das Feld.
Die Rolle des oder der öffentlichen Intellektuellen wird eindeutig von
Männern ausgefüllt. Quantitative Untersuchungen zeigen: Männer zitieren
überwiegend Männer. Frauen zitieren Frauen und Männer in etwa
gleichermaßen.
Ein sich selbst bestätigendes System.
Ja. Und das ist entscheidend für die Frage der Sichtbarkeit. Ähnlich
verhält es sich in Jurys, also bei Preisverleihungen in Literatur oder
Wissenschaft: Weibliche Jurymitglieder zeichnen Frauen und Männer ungefähr
zu gleichen Teilen aus, männliche Jurymitglieder bevorzugen überwiegend
männliche Preisträger. Und auch Auswahlgespräche mit Stellenbewerbern
funktionieren nach diesem Muster. Wenn man sich vor Augen führt, dass
Männer zahlenmäßig und vor allem in den Gatekeeper-Funktionen überwiegen,
dann erschließt sich, warum Frauen seltener sichtbar werden.
Es gibt also eine Diskrepanz bei der Sichtbarwerdung von Mann und Frau?
Aber ja. Auch viele Linke machen sich hier etwas vor. Ich selbst etwa habe
Gleichheitsillusionen im Geschlechterverhältnis am Beispiel von
Paarbeziehungen untersucht. Und die Paare aus den akademisch gebildeten
Milieus, darunter auch viele Linke, sind der Meinung, dass die
Gleichberechtigung schon sehr weit fortgeschritten ist und nahezu perfekt
funktioniert.
Wir haben schon lange eine Bundeskanzlerin, Frauen besetzen
Führungspositionen und in der Schule machen Mädchen inzwischen die besseren
Abschlüsse. Ist der neue, selbstbewusste Feminismus trotzdem eine
Selbsttäuschung?
In mancher Hinsicht ja. Ich sehe das etwa bei einigen meiner Studentinnen.
Sie glauben, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in ihrem späteren
Leben für sie persönlich kein Problem darstellen wird. Sie fühlen sich auch
in keiner Weise diskriminiert, etwa an der Uni. Und das stimmt zunächst
auch. Frauen werden im Ausbildungssystem nicht benachteiligt und bekommen
zumeist sogar die besseren Noten.
Und wann kommt der biografische Bruch?
Erste [5][Erfahrungen mit Diskriminierungen] zeigen sich erst mit dem
Einstieg ins Berufsleben. Hier erhalten Frauen weniger gute dotierte
Einstiegspositionen, weniger Aufstiegsoptionen und geringere Gehälter.
Dieser Unterschied wird von den Betroffenen zunächst nicht einmal bemerkt,
da über Gehälter in der Regel ja nicht gesprochen wird. Viele Unternehmen
und auch öffentliche Einrichtungen verhalten sich zudem sehr doppelbödig,
da sie lautstark Gleichberechtigung propagieren, diese aber nicht in
letzter Konsequenz praktizieren.
Ist die Gleichberechtigung der Geschlechter auch im Privaten eine Illusion?
Das zeigt sich etwa bei der Verteilung von Sorge- und Hausarbeit, die nach
wie vor in erster Linie von Frauen gemacht wird. Dieser Umstand wird mit
sehr viel Aufwand kaschiert und rhetorisch annulliert. Wir haben
festgestellt: Auf Nachfrage geben die meisten, insbesondere die gebildeten
Paare an, dass sie sich die Haus- und Erziehungsarbeit etwa gleich
aufteilen. Bei genauem Hinsehen wird klar, dass das in der Regel nicht
stimmt. Männer beteiligen sich ausschnitthaft, die Hauptverantwortung liegt
bei den Frauen. Wie unsere Forschung zeigt, gilt dies selbst bei solchen
Paaren, bei denen die Frau das Haupteinkommen verdient. Es ist auch für
diese Paare extrem mühsam, eine andere Rollenverteilung zu etablieren.
Das klingt, als seien wir diesen Mechanismen fast machtlos ausgeliefert.
Was raten Sie?
Gleichberechtigung beginnt mit der Partnerwahl. Viele heterosexuelle Frauen
bevorzugen charismatische oder beruflich sehr engagierte Männer, für die
Erfolg und nicht etwa die Familie oder gar das Häusliche an erster Stelle
steht. Dieses archaische Muster der Partnerwahl zeigt sich etwa in neueren
Echtzeitstudien zum Kontaktverhalten von Frauen und Männern in
Online-Dating-Portalen. Frauen antworten in der Regel nicht auf
Kontaktofferten, bei denen der Mann über einen im Vergleich zu ihnen
niedrigeren Bildungs- oder Berufsstatus verfügt.
Weil sie immer noch einen Ernährer suchen?
Nein, das steht nicht im Vordergrund, denn gerade auch Frauen, die viel
verdienen, folgen diesem Muster. Die charismatische Kopplung von
Männlichkeit und Erfolg ist so tief in unserer Kultur, etwa in Werbung,
Film oder auch Literatur, verankert, dass ein weniger erfolgreicher Mann
offenbar als schwach empfunden wird. Ein Ausweg wäre, als Frau darüber
nachzudenken, ob einem so ein Alphamännchen wirklich so guttut.
Was ist für Sie links?
[6][Die soziale Schere] hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten immer
weiter geöffnet. Wir finden heute eine ganz ähnliche Klassengesellschaft
wie im 19. Jahrhundert vor. Zwei Beispiele: In Offenbach etwa werden Betten
an bulgarische Wanderarbeiter, die im Bau arbeiten, vermietet. Exakt
dieselbe Situation gab es in Zeiten der Frühindustrialisierung im
Subproletariat bei den sogenannten Schlafgängern, die gegen Entgelt ein
Bett nur für einige Stunden am Tag mieteten. Auch eine Wiederkehr der
Dienstboten zeichnet sich gegenwärtig ab: Zwar gibt es heute keine
Dienstboten im engeren Sinne, doch tritt ein deutsch-migrantisches
Dienstleistungsproletariat zunehmend in die Dienste des postindustriellen
Bürgertums.
Wie lässt sich dann linke Politik machen?
Sie würde sich weniger um Gesinnungsfragen als um Gerechtigkeitsstandards,
Wohnungspolitik, soziale Durchlässigkeit und Durchmischung kümmern – im
Wohnviertel, in der Schule und bei Aufstiegschancen für unterprivilegierte
Schichten. Es geht darüber hinaus auch um die politische Gestaltung von
Globalisierung, um Europa, die Schließung von Steueroasen, die Regulation
der Finanzmärkte, die Etablierung europäischer Sozialstandards, den Abbau
von Ungleichheiten. Die Liste ließe sich beliebig verlängern.
8 Jul 2018
## LINKS
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## AUTOREN
Edith Kresta
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