# taz.de -- Kolumne „Wirtschaftsweisen“: Randgruppen in der Mitte | |
> In Berlin geht man noch nicht ganz so widerlich mit Bettlern und | |
> Obdachlosen um wie in Salzburg. Aber vor allem die Letzteren werden immer | |
> mehr. | |
Bild: Nicht gern gesehen im öffentlichen Raum – und doch da: Bettler; hier i… | |
Als ich einer alten Frau, die wie eine Romni aussah, am Heinrichplatz 50 | |
Cent gebe, sagt eine Serviererin: „Gib der nichts. Die hat mehr Geld als | |
du!“ – Diese Mär hält sich hartnäckig, dass die Bettler alle steinreich | |
sind und sich abends von einem Fahrer mit Mercedes abholen lassen. Bei den | |
Roma kommt hinzu, dass sie in vielen Kommunen aus der Stadt gejagt werden | |
sollen. In Salzburg etwa, wo der Vizebürgermeister die Bürger aufforderte, | |
wenn sie einen Bettler sehen oder den Verdacht haben, dass Roma in einem | |
Wald nächtigen, die Polizei zu verständigen. | |
Die [1][Salzburger Nachrichten] veröffentlichten dazu einen Stadtplan, auf | |
dem die „Bettelplätze“ der Stadt markiert sind. Der Salzburger | |
Schriftsteller [2][Karl-Markus Gauß] berichtet, dass neuerdings gerne | |
behauptet wird, die „mitfühlende kleine Gabe verbiete sich um der Bettler | |
selber wegen, die alles, was sie erwirtschafteten, doch nur dubiosen | |
Mafiabossen, die in sagenhaftem Reichtum in Transsylvanien schlemmen, | |
abzugeben hätten, Bettlerbaronen, die sogar hartherzig genug wären, | |
Behinderte zur Sklavenarbeit zu zwingen“. | |
In Berlin geht man noch nicht ganz so widerlich mit Bettlern und | |
Obdachlosen um, aber vor allem die Letzteren mehren sich: Es gibt kaum noch | |
eine U-Bahn-Fahrt, während der einem nicht ein Obdachloser seine | |
Existenzprobleme mitteilt, damit man ihm eine [3][Obdachlosenzeitung] | |
abkauft. | |
Immer wieder stößt man auf Nachtlager unter Brücken, meistens dort, wo | |
ständig Leute unterwegs sind. Für die dort Nächtigenden sind viele | |
Passanten eine Art Schutz vor Überfällen, aber sie wollen uns Noch-Behauste | |
auch zwingen, den Anblick bedürftiger Menschen zu ertragen. Wir sollen | |
sehen, dass es sie gibt und dass es ihnen schlecht geht. Dazu gehören auch | |
immer mehr verarmte türkische Arbeitslose, die nicht selten durch ihre | |
frühere Fabrikarbeit auch noch invalide geworden sind. | |
## „Puh, stinkt das hier!“ | |
Als ich kürzlich durch den Grünstreifen am Leuschnerdamm zum Engelbecken | |
ging, sah ich unter der Waldemarstraße-Brücke ein richtiges Bett von einem | |
Obdachlosen. Vor mir ging eine westdeutsche Schülerinnengruppe, einige | |
meinten: „Puh, stinkt das hier!“, und hielten sich die Nase zu. Darauf | |
riefen ein paar Männer ihnen irgendetwas hinterher. Wir drehten uns um, | |
sahen jedoch niemand, aber dann guckte ich genauer hin: Zwischen den | |
Brückenstreben links und rechts, fast unsichtbar, hatten sich gleich | |
mehrere Obdachlose eine Notunterkunft gebaut. | |
Die [4][Süddeutsche Zeitung], die sich immer wieder gerne Sorgen um die | |
neue Hauptstadt macht, schrieb: „In Berlin leben immer mehr Menschen auf | |
der Straße. Damit wachsen die Probleme, die zuständigen Bezirke sind | |
überfordert. Nun will der Senat eine berlinweite Strategie gegen | |
Obdachlosigkeit entwerfen.“ Die SZ interviewte die Pressesprecherin der | |
Stadtmission, sie meinte: „Wegen der Reisefreiheit in Europa leben hier | |
immer mehr Obdachlose aus Osteuropa. Sie sind inzwischen in unseren | |
Notunterkünften in der Mehrheit. Jedem deutschen Staatsbürger steht eine | |
Wohnung zu. Wohnungslose Europäer, die noch nie in Deutschland gearbeitet | |
haben, haben keinen Anspruch auf Unterstützung.“ | |
Ich interviewte dazu [5][Karsten Krampitz], der viele Jahre in der | |
Treptower Wärmestube Arche arbeitete und Bücher über Obdachlose | |
(„Rattenherz“) sowie Obdachlosenzeitungen („Affentöter“) schrieb. | |
Er meinte: „Der Staat tut immer weniger für Obdachlose. Mit Wohnungen | |
versorgt er sie zwar noch, doch die Obdachlosigkeit ist vor allem ein | |
seelisches Problem. Alle sozialen Kontakte haben sie auf der Straße und in | |
den Suppenküchen. Anfangs werden die Kumpel noch in die neue Wohnung | |
eingeladen, wo sie sich gemeinsam die Kante geben. Nachdem sie die ganze | |
Stütze versoffen haben, beginnt die Einsamkeit, die Bude verkommt, der Müll | |
türmt sich. Und irgendwann ziehen sie wieder los. Die meisten Obdachlosen | |
sind Männer. Sie verwahrlosen leichter. Sie suchen verzweifelt Kontakte, | |
treffen sich am Kiosk oder Bahnhof, pennen mal hier, mal dort, und | |
irgendwann sagen sie sich: ‚Ich brauch meine Wohnung – diesen Saustall – | |
doch gar nicht.‘ Man gibt einem Menschen noch kein Zuhause, wenn man ihm | |
eine Wohnung zuweist.“ | |
29 Jul 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.sn.at/ | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Karl-Markus_Gau%C3%9F | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Stra%C3%9Fenzeitung | |
[4] https://www.sueddeutsche.de/ | |
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Karsten_Krampitz | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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