# taz.de -- Kolumne Ich meld mich: Abendlied vaterlandsloser Gesellen | |
> Heimat? Wer heute von Heimat redet, erwartet Bekenntnisse, ein zartes | |
> Ziehen im Herzen und den Zusammenschluss der Reihen. | |
Bild: Marzipanspeicher in Lübeck | |
Ich fahre gern weg. Und ich komme genauso gern wieder zurück. Mich treibt | |
die Neugier auf Neues und Neue hinaus, nicht der Abscheu vor dem und den | |
Bekannten. Ich flüchte nicht von hier, ich bin begeistert dort. Es ist eine | |
gute Voraussetzung, das Hier wie das Dort nüchtern zu betrachten, ohne dies | |
oder das vorschnell zu verdammen oder den Romantik-Scheinwerfer | |
anzuknipsen. | |
Im Himalaja sind die Berge schroffer, in Kamerun die Menschen ungestümer | |
und fröhlicher, der Pazifik ist das größere und aufregendere Wasser im | |
Vergleich zur Ostsee, und jede Küchenparty in Neufundland bleibt eine | |
Erinnerung fürs Leben. | |
Hier fahren Busse und Bahnen pünktlich – ja, doch! –, Kinder gehen zur | |
Schule, ein Arzt ist im Notfall immer erreichbar. Ich kann überall ein Glas | |
Wein trinken, ohne scheel angesehen zu werden. Bisschen spießbürgerlich, | |
das alles? Ich schätze es. Jeder, der das Chaos im Dort gelegentlich | |
erlebt, lernt das Geordnete am Hier zu schätzen. | |
Somit wären wir bei Deutschland und dem, was gerade wieder mal heftig | |
Konjunktur hat: die sogenannte Heimat. Menschen, die meisten zumindest, | |
brauchen ein Zuhause. Einen Ort, an dem sie sich nicht allein fühlen, | |
sondern sicher und wohl. Einen Ort, der nicht von irgendwelchen Dumpfbacken | |
beherrscht oder bedroht wird. | |
In meinem Fall muss es ein Ort sein, an dem ich Menschen mit Mut, Klugheit | |
und Mitgefühl auf meiner Seite weiß. Nachbarinnen und Nachbarn, die über | |
den Tellerrand blicken. Freundinnen und Freunde, deren Witze ich verstehe | |
und mit denen ich über das Aufsetzen von Kompost, Kehlmanns „Tyll“, den BVB | |
und die Haltung zu Flüchtlingen reden kann. Wenn sich an diesem Ort zudem | |
etwas von der Vielfalt der Welt widerspiegelt – umso besser. | |
Dass in meinem Fall dieser Ort zudem eine Stadt mit großartigen Bauten und | |
reicher Geschichte namens Lübeck ist und ein kleines Meer in der Nähe | |
liegt, ist erfreulich. Es könnte allerdings auch der Schatten des Hochgrat | |
sein. Oder die Landmarken im Ruhrgebiet. Wenn es um ein Zuhause geht, ist | |
Geografie Bonusmaterial. Ist das nun die Heimat, die sie meinen? | |
„’s Huimatle“ nannten meine Großeltern ihren kleinen Bergbauernhof im | |
Allgäu. Sehr zärtlich – und verständlich: Sie düngten und mähten jeden | |
Quadratmeter der steilen Hänge Jahr für Jahr von Hand, sie kannten jede | |
Wurzel, jede Pfütze, jedes Vogelnest. Ihre Verbundenheit entsprang harter | |
Schinderei – und trotzdem misstrauten sie damals dem Blut-und-Boden-Gesülze | |
der Nazis zutiefst. | |
Heimat? Wer heute von Heimat redet, erwartet Bekenntnisse, ein zartes | |
Ziehen im Herzen und den Zusammenschluss der Reihen. | |
Aber wer braucht schon eine Heimat, wenn er ein Zuhause hat. | |
29 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Franz Lerchenmüller | |
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