# taz.de -- Ausstellung zum Einfamilienhaus: Vier Zimmer, Küche, Carport | |
> Das Cloppenburger Freilichtmuseum erfasst auf spektakuläre Weise die | |
> deutsche Sehnsucht nach dem Einfamilienhaus. | |
Bild: Der Gegenentwurf zum Einfamilienhaus ist auch heute noch der Bauwagen | |
CLOPPENBURG taz | Sie leben in einem? Gut möglich. Sie waren schon in | |
einem? Noch wahrscheinlicher. Zwei von drei Wohngebäuden in Deutschland | |
sind Einfamilienhäuser, 15,5 Millionen gibt es, täglich kommen etwa 270 | |
neue dazu. Und wenn Sie noch keines besitzen, dann sehnen Sie sich | |
wahrscheinlich nach einem. Hat die Bundesstiftung Baukultur ermittelt. | |
Während der Diskurs ums Wohnen vor allem von steigenden Mieten und | |
Verdrängung als Großstadtphänomene beherrscht wird, kommt dieser Traum | |
ziemlich vieler Menschen in Deutschland außerhalb von Werbung und | |
Wohnzeitschriften bislang kaum vor. | |
Das [1][Museumsdorf Cloppenburg] macht da eine Ausnahme: Mit der | |
Ausstellung „4 Wände. Von Familien, ihren Häusern und den Dingen drum | |
herum. Eine Ausstellung zum Einfamilienhaus in Deutschland seit 1950“ | |
ergründet es den Wunsch nach Eigenheim mit Carport – und die Probleme, die | |
er mit sich bringt. Denn die vermeintlichen Traumhäuser sind längst Teil | |
der neuen Wohnungsfrage, die sich eben nicht nur um ästhetische | |
Befindlichkeiten und angesagte Viertel dreht, sondern vor allem um eine | |
existenzielle Ressource: Einfamilienhäuser tragen wesentlich zum rasanten | |
Flächenverbrauch der fortschreitenden Suburbanisierung bei. | |
Damit sie bezahlbar sind, stehen sie meistens dort, wo sie nicht gebraucht | |
werden: in der Peripherie, fernab von Arbeitsplatz, Kitas, Schulen, | |
Einkaufsmöglichkeiten oder Kultur. Mit jedem Neubaugebiet verschwindet ein | |
Stück unversiegeltes Land. Und wer „gebaut“ hat, dem reicht längst nicht | |
mehr nur ein Auto, der braucht zwei, um den hektischen Arbeits- und | |
Familienalltag zu bewältigen. | |
## Wie wollen wir leben? | |
Spätestens hier wird die Wohnungsfrage zur Systemfrage: Wie wollen wir | |
eigentlich leben? Warum kriegen wir immer nur faule Kompromisse hin? Wann | |
wurde aus familiär-kollektiven ländlichen Wohnmustern ein Finanzprodukt für | |
die bürgerliche Kleinfamilie? | |
Das Museumsdorf hat sich kein exemplarisches Fertighaus aufs Gelände | |
stellen lassen, um das Thema zu bearbeiten. Die Kuratoren hatten | |
stattdessen einen genialen Einfall: Sie haben den Zaun des Museumsdorfs | |
geöffnet und kurzerhand die ganze angrenzende Einfamilienhaussiedlung zur | |
Ausstellungsfläche erklärt. | |
Augenzwinkernd wird hier postkolonial-korrekt die volkskundliche Praxis der | |
Präsentation spezifischer Lebensweisen aufs Korn genommen. Doppelbödig | |
zwar, aber ohne jede Häme und in enger Zusammenarbeit zwischen | |
Museumsmachern, Wissenschaftlern und Nachbarschaft. | |
## Unbedingt sehenswert | |
Schließlich stellt sich allein ob des Sujets die Frage, wer hier wen oder | |
was ausstellt. Als MuseumsbesucherIn mit Faltblatt in der Hand ist man | |
zwischen gepflegten Vorgärten und gepflasterten Auffahrten genauso Teil der | |
großen Truman-Show, wie die dort Lebenden und ihre vier bis vierzig Wände. | |
Das Freilichtmuseum eröffnet mit dieser unbedingt sehenswerten Ausstellung | |
ungeahnte Perspektiven auf einen Baubestand, der so alltäglich ist, dass er | |
kaum auffällt. Erzählt wird unaufgeregt und in einer Sprache, die abholt, | |
ohne sich anzubiedern: von der Problematik des Ressourcenverbrauchs und | |
Zukunftsmodellen nachhaltiger Bauleitplanung, aber auch von norddeutschen | |
Wohnzimmertapeten, Riemchenfassaden und davon, warum man eigentlich immer | |
durch die Waschküche ins Haus kommt. | |
Der Ausstellung liegt ein größeres Forschungsprojekt zugrunde: Drei Jahre | |
lang haben die Universität und die Fachhochschule Münster sowie der | |
Landschaftsverband Westfalen-Lippe die „Hausfragen“ wissenschaftlich | |
untersucht. In unterschiedlich geprägten Einfamilienhaussiedlungen in | |
Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen wurden Hausbewohner interviewt und | |
technische Daten gesammelt. | |
## Im Schnitt 200 Tonnen schwer | |
Die Forschungsergebnisse aus ethnologischer, kulturgeschichtlicher und – | |
ganz und gar nicht unwesentlich – abfallwirtschaftlicher Perspektive | |
flossen in die Cloppenburger Ausstellung mit ein. Da geht es zum Beispiel | |
um die Vorstellung, Miete sei verschwendetes Geld. | |
Dem Münsteraner Ethnologen Jakob Smigla-Zywocki ist dieses Argument bei | |
seinen Feldstudien ständig begegnet: „Die Menschen wollten ihren Nachkommen | |
etwas Gewichtiges hinterlassen“, sagt er. | |
Und gewichtig sind Einfamilienhäuser tatsächlich. Seine | |
Ingenieurs-KollegInnen Sabine Flamme und Gotthard Walter von der | |
Fachhochschule Münster haben nachgerechnet: Um die 200 Tonnen wiegen sie im | |
Schnitt. Mit allem drum und dran, von den Seltenen Erden in den | |
Elektrogeräten bis zur aufbewahrten Babykleidung. | |
„Das Einfamilienhaus ist ein sogenanntes anthropogenes Stofflager“, sagt | |
Walter. Wenn die natürlichen Ressourcen einmal knapp werden, könnten die | |
menschengemachten Rohstofflager relevant werden. Auch das Umweltbundesamt | |
forscht dazu. | |
## Wer öffnet seinen Keller? | |
Walter erzählt, dass es nicht so einfach war, die Leute zu überzeugen, dass | |
sie den Forschern ihre Kleiderschränke und Dachböden öffnen. „Das ist auf | |
eine Art noch privater als ein ethnologisches Interview. Deshalb haben wir | |
mit Annahmen gerechnet und diese mehrfach überprüft“, erklärt er. „Im | |
Vergleich mit anderen verfügbaren Daten sind unsere Ergebnisse sehr | |
plausibel.“ | |
Die erhobenen Zahlen sind in der Ausstellung aufbereitet: Wie lange könnte | |
man mit der Masse eines Einfamilienhauses einen Vier-Personen-Haushalt | |
beheizen? 20 Jahre. Wieviel Fläche verbraucht ein Quadratmeter | |
Einfamilienhaus wirklich? Die Antwort auf diese Frage ist in Cloppenburg | |
mit den entsprechenden Bruchstücken eines zermahlenen | |
Durchschnittsexemplars ausgeschottert: 150 Quadratmeter. | |
Solch begehbare Statistik passt nicht nur gut zum Ausstellungskonzept. Sie | |
lässt sich auch als doppelbödiger Kommentar zur Zukunft des | |
Freilichtmuseums selbst lesen. Das wird seinen Flächenverbrauch bald | |
erhöhen: Im „Museumsdorf 2020“ sollen im kommenden Jahrzehnt eine | |
Dorfdisko, eine Tankstelle, ein kleines Lebensmittelgeschäft – und ein | |
typisches Siedlungshaus entstehen. | |
Sie sind Zeugnisse der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erzählen von | |
der Integration Vertriebener und Geflüchteter, vom Wandel der Arbeitswelt, | |
von jugendlicher Freizeitgestaltung – so wie die Fachwerkscheunen und | |
Windmühlen auf dem Gelände des Freilichtmuseums vom Leben der | |
vorindustriellen Gesellschaft berichten. | |
Mit der 4-Wände-Ausstellung ist in Cloppenburg ein grandioser Auftakt für | |
die alltagsgeschichtlichen Fragestellungen des 21. Jahrhunderts gelungen, | |
gerade weil Wissenschaftler, Ausstellungsmacher und Nachbarn so eng | |
zusammenarbeiten und sich trauen, die Grenzen zwischen Museum und | |
Privateigentum zu verwischen. | |
## Erlebnis für alle Generationen | |
So sehr, dass man fast eine Warnung aussprechen muss: Manch einem werden | |
hier Szenen aus der norddeutschen Kindheit begegnen, auf aufwühlende Weise | |
authentisch. Gerüche, Materialien, Möbel: alles echt. Die Dialektik von | |
Massengesellschaft und Individualisierung – selten wurde sie so erfahrbar | |
gemacht. | |
Und damit das Museumserlebnis auch für alle Generationen etwas bietet, hat | |
eine Spieleerfinderin vier Brettspiele entwickelt. An einem großen | |
Spieltisch können so Einfamilienhauserben mit ihren Enkelkindern etwa | |
„Haussegen“ und andere lebenspraktische Fragen durchspielen. „Die Spiele | |
sind leicht erklärt und dauern nur sieben Minuten“, verrät Kurator Cai-Olaf | |
Wilgeroth. | |
Zur Eröffnung im April hatten er und seine KollegInnen mit der angrenzenden | |
Siedlung ein Straßenfest organisiert – kein nettes Event, sondern eine | |
durchaus politische These. Die wichtigste und zugleich subtilste Botschaft | |
der ganzen Ausstellung: Heimat findet immer schon statt, ganz ohne | |
zuständiges Ministerium. | |
29 Jun 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.museumsdorf.de/index.php/de/ausstellungen/325-4waende-von-famil… | |
## AUTOREN | |
Louisa Reichstetter | |
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