| # taz.de -- Die Wahrheit: Müll ist in der kleinsten Hütte | |
| > Der neueste, sehr heiße Scheiß: Containern in den eigenen vier Wänden. | |
| > Auf den Spuren ebenso junger wie erfahrener Selbstcontainer. | |
| Bild: Eine Lebensform für sich sind Selbstcontainer, die in ihren vermüllten … | |
| Dunkel und friedlich liegt sie da, die Einbauküche von Anna Bögemann, 24. | |
| Es ist zwei Uhr nachts; die Küche, sonst ein Ort geschäftigen Treibens, ist | |
| jetzt verlassen. Da zuckt ein Lichtschein über die schlammfarbenen Fließen. | |
| Er gehört der Stirnlampe von Bögemann, die selbst gerade durch die | |
| Durchreiche klettert. Mit einem kleinen Hammer befestigt sie einen | |
| Kletterhaken in der Regalwand neben sich, zieht das Seil hindurch, lässt | |
| sich fallen – und sitzt schließlich mit einem eleganten Schwung auf der | |
| Anrichte auf. Vorsichtig bewegt sie sich an schmutzigem Geschirr vorbei, | |
| balanciert über ein Schneidbrett, bis sie schließlich den Abfalleimer, das | |
| Ziel ihrer Wünsche, erreicht hat. Mit einem Draht hebt sie den Deckel an, | |
| mit einer kleinen Zange durchtrennt sie den Schließmechanismus – und rettet | |
| Lebensmittel, die sonst verloren gehen würden. | |
| Am nächsten Morgen zeigt Anna Bögemann uns stolz ihre Ausbeute. Eine halbe | |
| Packung Landeier, vor zwei Tagen abgelaufen. Eine Flasche Erdbeersekt. Ein | |
| Strauß Bananen mit nur wenigen fauligen Stellen. „Für andere ist das Müll�… | |
| lacht sie ungläubig. „Für mich auch. Bis ich es mir dann anders überlege.�… | |
| Containern in der eigenen Wohnung – ein neuer Trend konsumkritischer junger | |
| Leute erobert die Städte. „Von den Dingen, die ich täglich wegschmeiße, | |
| kann jemand wie ich prima leben“, sagt Bögemann, schält eine Banane, riecht | |
| daran und wirft sie wieder weg. „In fast jeder Wohnung lagern | |
| unvorstellbare Schätze, die irgendwann auf den Müll geworfen oder einfach | |
| vergessen werden. Da frage ich mich schon: Cui bono?“ | |
| ## Wider das Wegwerfdenken | |
| An manchen Wochenenden klettert sie in den Papierkorb, wühlt sich | |
| stundenlang durch den Sack für die Kleidersammlung. Zwei Wochen verbrachte | |
| sie in einem unwirtlichen Teil ihres Badezimmers, kam zurück, schwer | |
| beladen mit Kosmetikproben und Dutzenden Packungen ungeöffneter alter | |
| Taschentücher. Ihr Ziel: dem Wegwerfdenken einen Strich durch die Rechnung | |
| machen. Und die Rechnung, die beginnt im eigenen Kopf. Erfahrene | |
| Selbstcontainer, wie sie sich selbst nennen, können monatelang in der | |
| eigenen Wohnung überleben, ohne sie je verlassen zu müssen. Im Gegensatz zu | |
| anderen glauben sie nicht, dass Containern in den Hinterhöfen der | |
| Supermarktketten etwas am System ändert. | |
| „Im Zweifel ist das für die doch billiges Recycling“, raunzt Martin | |
| Knepper. In der Szene ist der Selbstcontainer ein Idol – er verlässt seit | |
| zwei Jahren sein Schuhregal nicht, erzeugt Strom aus Körperspannung. „Und | |
| ich finde hier täglich noch Neues“, sagt er stolz. Einfach, weil der | |
| Skorbut sein Gedächtnis zerstört. Vor Kurzem hat er sein erstes Buch | |
| geschrieben, „Dumpster Living“. Das Manuskript kratzte er mit er dem | |
| Fingernagel in eine Birkenstocksohle. | |
| Die Warenmenge, die ein durchschnittlicher deutscher Haushalt im Jahr | |
| umsetzt, ist beachtlich. In Hamburg sind es 200 bis 300 Kilo Zeug, die pro | |
| Woche durch verschiedene Türen und Fenster in ein Einfamilienhaus | |
| hineingepresst werden. Lieferdienste warten nicht länger darauf, ob der | |
| Kunde bestellt – sie liefern auf Verdacht. Die dahinterstehende Technik | |
| heißt just-in-case-Produktion. | |
| „Die Lagerung ist viel teurer als Herstellung und Versand. Buchhalterisch | |
| ist es Käse, auf Bestellungen zu warten“, sagt der Logistikexperte Daniel | |
| Pascalzorn. „Der Algorithmus rechnet einfach aus, was die Leute diesen | |
| Monat wollen sollen, und präsentiert ihnen dann personalisierte Werbung für | |
| die Waren, die bereits im Abholcenter auf sie warten. Das wird alles mit | |
| den monatlichen Gebühren etwa von Amazon Prime verrechnet.“ | |
| Anna Bögemann weiß, dass sie gesetzlich verpflichtet ist, abgelaufene | |
| Lebensmittel sofort wegzuwerfen oder unter notarieller Aufsicht im Garten | |
| zu verbrennen. Es ist ihr gleich. Sie widersetzt sich bewusst einem System, | |
| von dem sie glaubt, dass es am Ende nur einer nützt: ihr selbst. | |
| ## Teure Maßnahmen | |
| Die Rechtslage ist nicht gänzlich eindeutig. Einerseits entsteht durch das | |
| Eigencontainern niemandem Schaden. Andererseits sind die Leute, die es | |
| betreiben, meist vollständig unerträglich. In Einzelfällen wurden schon | |
| tägliche Räumungen angeordnet, um besonders schwer betroffene Wohnungen | |
| containerfrei zu halten. Doch sind diese Maßnahmen teurer, als die | |
| Selbstcontainer einfach ins Gefängnis zu werfen. Das Problem: Ihren | |
| bizarren Lebensstil können sie auch dort pflegen. Denn Müll ist in der | |
| kleinsten Hütte. | |
| Anna Bögemann ist für heute noch lang nicht fertig. Sie nimmt ein Messer, | |
| das sie vor langer Zeit aus einer Türklinke schnitzte, und öffnet damit | |
| behutsam die Matratze, die sie kürzlich in ihrem Schlafzimmer fand. Nach | |
| ein paar kräftigen Schnitten stößt sie auf Gold: Schaumstoff, Schaumstoff | |
| in bester Qualität! | |
| Die hagere Endzeitgestalt stößt ein triumphierendes Krächzen aus und teilt | |
| die Beute geschwind auf. Die eine Hälfte wandert sofort in Einmachgläser. | |
| Die andere Hälfte wird sie langsam über dem Gaskocher einschmelzen, bis er | |
| zu braunem Klumpatsch geronnen ist. Den wird Anna dann zu kleinen Tiegeln, | |
| Aschenbechern und Kunstgegenständen formen, die sie dann wiederum | |
| bedenkenlos wegwerfen kann. So beginnt der Kreislauf von vorne – ohne dass | |
| auch nur ein Cent umgesetzt wird. Und Amazon schaut in die Röhre. Anna | |
| weiß: Wenn sie einem Manager auch nur ein graues Haar mehr wachsen hat | |
| lassen, hat sich ihr jahrzehntelanges Martyrium gelohnt. | |
| 17 Nov 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Leo Fischer | |
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