# taz.de -- Die Wahrheit: Die heimliche Handarbeitsstadt | |
> München ist plötzlich in. Woher kommt die neue Begeisterung für das | |
> große, alte Dorf? Eine Ortsbesichtigung. | |
Eine seltsame Szene bot sich kürzlich beim Deutschen Städtetag in Nürnberg: | |
Nach einem Vortrag über die belebende Wirkung von Dieselabgasen auf die | |
Gehirne von Vorschulkindern und einem ersten Vormittagsschoppen stürzte | |
Tübingens OB Boris Palmer (Grüne) auf Münchens OB Dieter Reiter (SPD) zu. | |
Ob er, Palmer, nicht irgendwie Asyl in München beantragen könne, so seine | |
nur schwer verständliche Anfrage an den Bajuwaren; ihm, Palmer, gehe | |
nämlich „dieses fuckin’ Gutmenschen-Tübingen“ sowie „diese ganze link… | |
versiffte Ökoscheiße“ mittlerweile „mächtig an die Klöten“. Reiter na… | |
gelassen, versprach eine schnelle Behandlung des Einreisegesuchs – und ließ | |
Palmer dann den leergetrunkenen Kopf auf seiner Schulter ausruhen. | |
## Boden unter den Füßen | |
Eine Posse unter Provinzpotentaten, könnte man meinen. Aber auch | |
kennzeichnend für den unerhörten Reiz, den die Stadt München auf ganz | |
Deutschland ausübt. In München, das spüren viele, ist die Welt noch in | |
Ordnung, steht der Himmel noch blau über den Bergen, befindet sich der | |
Boden noch fest unter den Füßen. Microsoft investiert hier, Start-ups | |
poppen auf, Menschen mit Bärten und Plastik im Ohrwaschel reden wundersam | |
vom Internet. Was reizt an München, woher kommt die neue Begeisterung für | |
die größte Kommune Deutschlands? | |
Im Hauptbahnhof München angekommen, spürt der Besucher sogleich: der Laden | |
brummt. Hier lädt ein McDonald’s zur gepflegten Jause, dort sagt ein Burger | |
King freundlich: „Grüß Gott“, und auch eine Filiale der „Nordsee“ bie… | |
manches „Schmankerl“ feil. Wohlbehütet von mehreren mit MGs bewaffneten | |
Einheiten der Bahnhofspolizei, lässt sich hier entspannt und ohne | |
Terrorangst schmausen. | |
Weiter geht es auf den Stachus: Hier geben sich exklusive Designer wie | |
Bijou Brigitte, Deichmann und Karstadt Sports ein Stelldichein, locken mit | |
„Hammer-Preisen“ und „drei Schuhen zum Preis von einem“. Internationale | |
Marken wie S. Oliver, C&A und Sport Scheck sind hier ein | |
selbstverständlicher Anblick. | |
Weiter unten, auf der Kaufingerstraße, kommen Freunde der Telekommunikation | |
auf ihre Kosten, werden wahlweise im „Vodafone Shop“ oder im „Telekom Sho… | |
freundlich beraten. Der Sauerkrautduft in dem Filialen verleiht dem | |
Handykauf ein heimeliges Ambiente. Man spürt die Dynamik, die Lebensfreude, | |
die diese alte Residenzstadt neu durchweht – und die lachenden | |
Hundertschaften vor dem Polizeipräsidium sorgen dafür, dass niemand aus der | |
Reihe tanzt. | |
Denn bei aller Freude über Wohlstand und Konsum: Sicherheit wird in der | |
bayerischen Landeshauptstadt großgeschrieben. Die Sperrstunde ab zwanzig | |
Uhr trifft zwar die meisten Wirte, hat aber die Verbrechensstatistik | |
deutlich geschönt. Auch sonst wird durchgegriffen: Wer im öffentlichen Raum | |
mit seltsamen Frisuren oder Ansichten provoziert, muss damit rechnen, sich | |
schnell auf der Wache wiederzufinden. Ein neues Gesetz der bayerischen | |
Landesregierung sorgt dafür, dass er dort auch ohne besonderen Verdacht | |
beliebig lange festgehalten werden kann. | |
Man hat sich zu benehmen in dieser wunderbaren Stadt. Der Glanz der Audis | |
und BMWs, die hier in beträchtlicher Zahl die Wege säumen, soll nicht durch | |
Kleinkriminalität oder unschön aussehende Menschen geschmälert werden. Was | |
anderswo beschämt als „Gentrifzierung“ vertuscht wird, ist hier einfach nur | |
ein souveräner Umgang mit der uralten Tradition, dem sogenannten | |
Watschenbaum, der seit 1891 im Englischen Garten steht. | |
Im historischen Wirtshaus Sausalitos am Radlsteg treffe ich mich mit Karen | |
(29), Leif (34) und dem kleinen Forbes (3). Die junge Familie ist eben | |
erst von Prenzlauer Berg in Berlin nach München-Au gezogen. Leif, der | |
gelernte Grafikdesigner, hat die Chance erhalten, sich beim Medienhaus | |
Burda einen Lebenstraum zu erfüllen: für das Lifestyle-Magazin InStyle im | |
Akkord Titten retuschieren. Karen hat Puppenspiel und Kritische | |
Theaterwissenschaft studiert, arbeitet derzeit aber als Parfümschwenkerin | |
im Nobelkaufhaus Oberpollinger. Was reizt sie, diese jungen Vertreter einer | |
urbanen Medienelite, am so oft als konservativ geschmähten München? | |
„München ist wie Berlin, nur mit WLAN“, lacht Leif und streichelt sich keck | |
durch den sorgsam gepflegten Schnäuzer. „Und ich kann hier ganz normal | |
einkaufen gehen. Fielmann, Conrad, Jack Wolfskin, alles da. Nach Feierabend | |
auch mal ein Bier. Aber: Es ist einfach nicht alles so versifft.“ Karen, | |
die früher bei der Grünen Jugend war und ein Nirvana-T-Shirt trägt, | |
insgeheim aber mit einem Beitritt in der Frauenunion liebäugelt, sagt es | |
deutlicher: „Wenn ich hier mit meinem Kinderwagen angefahren komme, | |
springen die ganzen Flüchtlinge brav zur Seite. Das ist auch für mich als | |
Mutter wichtig. In Berlin muss ich mich überall dafür entschuldigen, | |
überhaupt ein Kind auf die Welt gebracht zu haben.“ | |
## Sog für kreative Köpfe | |
Karen und Leif sind nicht allein. München hat sich zu einem | |
Hochtechnologiestandort entwickelt, der auf kreative Köpfe wie sie eine | |
unglaubliche Sogwirkung ausübt. Dabei ist es egal, dass Leif einen Tunnel | |
im Ohr hat und Karen den Arm voller Tattoos. Das spießige München, das auf | |
solche Eigenheiten herabblickt, gibt es nicht mehr. Leistungsbereitschaft | |
und Flexibilität zählen mehr als Kleiderordnung und Sekretärinnenpopo. Wie | |
jemand aussieht, spielt im modernen München weniger eine Rolle, als welche | |
Hautfarbe er hat. „Ich kann mir hier ganz normal handgeschöpfte Bartwichse | |
kaufen wie in Berlin auch“, meint Leif. | |
Karen unterstützt Leif bei diesen Träumen. Sie weiß, dass sie in München | |
als selbstbewusste Frau nicht weniger wert ist – vorausgesetzt, sie macht | |
beim Oktoberfest kein sinnloses Geschrei, bloß weil einer mal die Hand | |
unters Dirndl schiebt: „Das ist Lokalkolorit, das ist zünftig“, sagt sie | |
urig und lacht problemlos. | |
## Haar mit Honigseim | |
München ist Zukunftsstandort. Und die Politik hilft gern mit. Kaum hatte | |
sich Microsoft in Unterschleißheim angesiedelt, stellte Oberbürgermeister | |
Dieter Reiter die öffentliche Verwaltung von Linux auf Windows um. Und | |
sollte demnächst Google, Gazprom oder Alnatura anklopfen, wird er auch hier | |
nicht lange fackeln. Die Konzernherren wissen: In München dürfen sich nicht | |
nur junge Familien wohlfühlen; hier macht es ihnen der OB notfalls noch mit | |
der Hand. | |
„Wenn der kleine Forbes hier erst mal achtzehn ist, kann er sich in München | |
seinen Arbeitgeber aussuchen“, sagt Leif und streichelt seinem Söhnchen | |
durchs Haar (Manufactum, handgewebt, mit Honigseim blondiert, 299 Euro). | |
„Und er muss dabei keine Angst haben, in die Drogenszene abzurutschen wie | |
Jugendliche in anderen Städten.“ | |
In sogenannten Purge Nights werden Münchens Fixer regelmäßig | |
zusammengekarrt und in einer Kalkmine im Hofoldinger Forst unbürokratisch | |
erschossen – München ist nicht zuletzt auch eine Stadt der kurzen Wege. | |
Aber auch ein spannendes Experimentierfeld: Hier wird eingeübt und geprobt, | |
was sich der Weltbürger der Zukunft für einen einigermaßen sicheren Job und | |
tolle Shops zumuten lassen wird. Und wir dürfen hoffen: eine ganze Menge. | |
Servus, München! | |
12 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Leo Fischer | |
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