| # taz.de -- Die Wahrheit: Bekenntnis eines blauäugigen Linken | |
| > Spätlese der Krawalle beim G20-Gipfel: Was ist heute noch links? Das weiß | |
| > nach den Mordsnächten von Hamburg tatsächlich niemand mehr. | |
| Hallo, Linke. Wir müssen reden. Über Hamburg. Und das, was schiefläuft bei | |
| uns. Denn „links“, das ist heute mehr als eine Himmelsrichtung. Hamburg, | |
| das wird immer deutlicher, hat den politischen Kompass entmagnetisiert. Hat | |
| den Straßenplan auf den Kopf gestellt. Heute müssen wir uns fragen: Wollen | |
| wir Überholspur oder Bremsspur in der Unterhose der Geschichte sein? Denn | |
| dann müssen wir schon jetzt den Blinker setzen. | |
| Ich war mal einer von euch. Habe mit euch studiert, gelacht, getrunken; | |
| habe Vorträge besucht und mir Bücher aus der Bibliothek ausgeliehen. Wir | |
| diskutierten über die neue „Southpark“-Folge und lachten über die Dummheit | |
| von Joanne K. Rowling. Niemals hätte ich geahnt, dass wir zu so was fähig | |
| sind: Widerstand gegen die Staatsmacht zu leisten. | |
| Niemals hätte ich geahnt, dass sich unter friedlich Demonstrierende auch | |
| Krawalltouristen mischen, die die ohnehin schon gestressten und teilweise | |
| am Hungertuch nagenden Polizisten bis aufs Blut provozieren. Nie hätte ich | |
| geahnt, dass Leute ihre Vorstellungen vom richtigen Leben mit Gewalt | |
| durchsetzen wollen, sofern sie nicht Olaf Scholz oder Recep Erdoğan heißen. | |
| Wohin habe ich mich, haben wir uns verirrt? | |
| ## Kapitaler Hohn | |
| Ich weiß heute, nach dem Irrsinn von Hamburg, dass viele meiner | |
| liebgewonnenen Überzeugungen den einfachen Menschen auf der Straße wie | |
| blanker Hohn vorkommen müssen. Die Vorstellung, abstrakte Marktgesetze | |
| führten zu einer immer schneller fortschreitenden Kapitalkonzentration, | |
| während die meisten Menschen in Unwissenheit und Elend gehalten werden, ist | |
| der von Putzflaschen lebenden Pfandfrau, deren einzige Nachrichtenquelle | |
| die Wochenschrift „Lidl ist billig“ ist, nicht mal ein müdes Lächeln wert. | |
| Und schlimmer noch: Sie entspricht einfach nicht mehr unserer | |
| Lebensrealität. Einer Realität, in der jeder, der einen Porsche besitzen | |
| möchte, theoretisch auch einen haben kann – und dabei mit Ratenkrediten | |
| verwöhnt wird, von denen unsere Vorfahren nur träumen könnten. | |
| Diese Wahrheit, ich wollte sie lange nicht wahrhaben: Eventuell bringt der | |
| Kapitalismus nicht nur massenweise Knechtschaft, sondern auch tolle | |
| Erfindungen wie Elektrizität und Aioli hervor. Wer daran denkt, dieses | |
| System irgend verbessern oder gar ersetzen zu wollen, sollte schon erklären | |
| können, wie er künftig auf Elektrizität verzichten will. Die meisten meiner | |
| linken Freunde können das nicht. | |
| Und da ist auch die Kultur der Gewalt. Ich spüre sie täglich in mir | |
| brodeln, kann meinen Zorn kaum bändigen. Ja, ich weiß, dass die | |
| alleinerziehende und arbeitslose Rewe-Kassiererin nach der dritten Schicht | |
| nur mehr von Tabletten und Manteltarifverträgen zusammengehalten wird. Ja, | |
| ich weiß, dass der Filialleiter jedes Wochenende von Assessment-Center zu | |
| Assessment-Center geschleift wird, um in gnadenloser Konkurrenz zu seinen | |
| Mitbewerbern Teamfähigkeit und Social Skills zu trainieren. Und ja, ich | |
| weiß, dass die Eigentümer von Rewe Stirnhöhlenkrebs bekommen vor Sorge um | |
| ihre Arbeitnehmer und deren Familien, wenn bei Aldi das gleiche Produkt für | |
| weniger Geld auch noch leckerer schmeckt. | |
| Ich weiß dies alles, und dennoch kann ich ihn nicht überwinden: den Drang, | |
| alles kurz und klein zu schlagen, sobald meine lächerlich utopische und | |
| unrealisierbare Wunschvorstellung von einer Welt mit 25-Stunden-Woche, | |
| weniger Ertrunkenen und Krankenkassen, die auch Brillen bezahlen, nicht von | |
| einem Tag auf den anderen verwirklicht wird. Sehe ich ein Rewe-Logo, will | |
| ich vielmehr nur eins: töten, töten, töten und mich an den Eingeweiden von | |
| Minijobbern laben. | |
| Inzwischen weiß ich, woher diese Bedürfnisse kommen. Es gibt sie in jeder | |
| Stadt. Linke Zentren, in denen Chaos-Anarchisten ihre nächsten Bluttaten | |
| planen. Wo obszöne Graffiti die Bemühungen der SPD verhöhnen, wo laute | |
| Musik bis hart an die Grenze zur Sperrstunde gehört wird, wo verbotenes | |
| Schrifttum wie Konkret ausliegt. Wo halblaut „Deutschland muss sterben“ | |
| gesagt und provozierend in die Runde geguckt wird. | |
| In so einem Zentrum habe ich mich niemals aufgehalten. Schon aus | |
| hygienischen Gründen nicht. Und doch spüre ich, gerade jetzt nach dem | |
| Todesalbtraum von Hamburg, dass der Einflussbereich dieser Zentren weiter | |
| reicht als gedacht, dass ihre Tentakel sich auch über Hunderte, ja Tausende | |
| von Kilometern hinweg tief in mein Zentralganglion gebohrt haben. Diese | |
| Zentren sind der Krankenhauskeim, den wir Linke in das eigentlich gesunde | |
| Krankenhaus „Gesellschaft“ eingepflanzt haben. Sagrotan hilft da nicht | |
| mehr. Es muss jetzt das glühende Eisen der Vernunft in diese Wunde gepresst | |
| werden, damit unsere Kinder später einmal darüber lachen können. | |
| ## Gescheiterte Gesellschaft | |
| Was ist heute noch links? Das weiß inzwischen, nach den Mordsnächten von | |
| Hamburg, tatsächlich niemand mehr. Ich jedenfalls habe keine Lust auf eine | |
| Welt, in der Umverteilung tatsächlich nur ein schönes Wort für „Leuten | |
| etwas wegnehmen“ ist. Ich will in keiner Welt leben, in der Menschen, die | |
| ihr Vermögen ehrlich ererbt haben, dafür auch noch Steuern zahlen müssen | |
| wie irgendein armseliger Angestellter. Ich will nicht in einer Welt leben, | |
| in der Menschen, die von staatlichen Leistungen abhängig sind, in | |
| Fernsehrunden auch noch das große Wort schwingen dürfen. Das war einmal, | |
| das ist gescheitert. | |
| Wir als Linke sollten beginnen, unsere Forderungen an die Wirklichkeit | |
| anzupassen. Warum findet die Tatsache, dass ich jedes Jahr an Amnesty | |
| spende, in unseren Medien nicht mehr Gehör? Warum muss ich mich schämen für | |
| die Tatsache, dass ich als linker Autor auch gern mal dreihundert Euro beim | |
| Edelitaliener lasse? Hier kann moderne linke Politik greifen. Wenn es um | |
| Respekt, um Anerkennung geht. Im Kleinen, dort, wo es niemanden stört und | |
| es keine Konsequenzen hat. | |
| Ich möchte, dass mein Einsatz an der Biofleischtheke vom Staat anerkannt | |
| wird, etwa über großzügige Steuerrabatte. Ich möchte, dass meine Kinder | |
| sich aussuchen dürfen, wie viele Ausländer sie in ihrer Schulklasse | |
| mitschleppen wollen. Ich möchte, dass mein ehrenamtliches Engagement für | |
| meinen Verein „Geldparken 3000 plus Charity-Scheiße“ als Freibetrag | |
| angerechnet werden kann. Und ich möchte mich nicht als „rechts“ beschimpfen | |
| lassen, nur weil ich teilweise die Positionen von Sandra Maischberger | |
| teile. Wer Menschen, die sich als links bezeichnen, mit Kampfbegriffen wie | |
| „rechts“ beleidigt, sollte letztlich genauso behandelt werden wie ein | |
| Brandstifter oder Laserpointer. | |
| Vor allem aber müssen wir Linke unsere wichtigste Fähigkeit in Ehren | |
| halten: uns zu distanzieren. Von Sahra Wagenknecht und von August Bebel. | |
| Von Attac, von RWE Ökostrom, von Kim Jong Un. Und vor allem von Leuten, die | |
| sich selbst „links“ nennen. Alle diese Leute haben nichts mit uns zu tun. | |
| Wir müssen lernen, dass Linkssein gefährlich ist. Wie Atomenergie. Wir | |
| dürfen diese schreckliche Macht nur unter höchsten Sicherheitsauflagen und | |
| in streng kontrollierten Umgebungen aktivieren. Wir haben die Verantwortung | |
| dafür, dass nicht das ganze wunderschöne Deutschland verstrahlt und zu | |
| einer leblosen Ödnis wird. Wir haben diese Macht. Und wie einst Superman | |
| müssen wir nun an den Nordpol gehen, um sie nie wieder einzusetzen. Das | |
| schulden wir den Toten von Hamburg. | |
| 15 Jul 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Leo Fischer | |
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