# taz.de -- Autonome Bewegungen in Deutschland: Hurra, die Welt geht unter | |
> Ein G20-Gipfel gehört wie der Gegenprotest in eine aufgeklärte | |
> Gesellschaft. Man muss aber eine Vorstellung von einer solchen haben. | |
Bild: März 1973: Demonstrierende im Frankfurter Westend rennen vor einem Wasse… | |
Die Geschichte der autonomen Bewegungen ist reich an gewalttätigen | |
Erfahrungen und Auseinandersetzungen. Doch wurde sie, die Gewalt, in der | |
Vergangenheit sehr unterschiedlich eingesetzt und folgte auch sehr | |
unterschiedlichen Weltbildern. Entstanden sind die autonomen Bewegungen in | |
Westeuropa ab Ende der 1960er Jahre. Sie kritisierten die alte | |
Arbeiterbewegung und den autoritären Staatskommunismus, deren | |
paternalistische Lebens- und Liebesvorstellungen, deren | |
sozialistisch-kommunistische Verherrlichung von Fabrikarbeit und | |
Proletariat. | |
Ihre Blüte hatten die autonomen Bewegungen in Italien und der | |
Bundesrepublik in den 1970er Jahren. In Italien befand man sich am Rande | |
des Bürgerkriegs. Die Kinder der ehemaligen Partisanen standen dem | |
größtenteils noch aus der Zeit des Faschismus stammenden Polizei- und | |
Justizapparat unversöhnlich gegenüber. Auch in der Bundesrepublik | |
eskalierten nach 1968 die Kämpfe um Freiräume (Autonomie!) und eine | |
libertäre Lebensweise. | |
In Frankfurt am Main, wo die Spontiszene um Joschka Fischer und Daniel | |
Cohn-Bendit besonders stark war, aber auch in anderen Städten kam es immer | |
wieder zu Schlachten der Hausbesetzerbewegung mit der Polizei. Es gab | |
Schwerverletzte auf beiden Seiten, 1976 wurde ein Polizist durch einen | |
Brandsatz in Frankfurt fast getötet. Diese und andere Ereignisse sowie die | |
militärische Polarisierungsstrategie bewaffneter Gruppen wie der RAF | |
führten allerdings zu einer nachhaltigen Diskussion um Demokratie und | |
Militanz in den linksradikalen Szenen. Viele kehrten damals der militanten | |
Szene den Rücken und gründeten die Grünen mit. | |
Gefährlich wurde es in der Vergangenheit bei Protesten der Autonomen immer, | |
wenn unreflektierter Antikapitalismus und katastrophische Endzeitstimmung | |
zusammenfanden. Sie bilden so etwas wie das persönliche Ermächtigungsgesetz | |
des kleinen linksautonomen Mannes. | |
1987 lauerte eine militante Gruppe im Wald bei Frankfurt am Main Polizisten | |
auf. Sie verstanden sich als Teil des antiimperialistisch-autonomen | |
Widerstands gegen den Ausbau der Startbahn West am Frankfurter Flughafen, | |
erschossen zwei Beamte und verletzten weitere sieben zum Teil schwer. Die | |
Schüsse markierten das Ende der autonomen Politik, wie man sie bis dahin | |
kannte. Die nach dem Desaster verbliebene Restbewegung schulte demokratisch | |
nach. Die Zeiten katastrophistischer Weltbilder und männlichen | |
Militanzgehabes schienen vorüber. In Berlin und Hamburg ignorierten | |
allerdings größere Teile der Szene die anderswo gemachten Erfahrungen. | |
## Mit Rot-Grün endete der Postfaschismus | |
Die weniger Orthodoxen unter den Autonomen widmeten sich in den 1990ern | |
überwiegend dem Antifaschismus. Nach 1989 war eine Welle nazistischer | |
Gewalt durchs Land geschwappt, befördert durch Rhetorik und die Untätigkeit | |
der Behörden. In der Verteidigung von Existenz- und Minderheitenrechten | |
nahmen autonome Antifaschisten ein aktives Notwehrrecht für sich in | |
Anspruch. Die antiimperialistisch-autonomen Gruppen verzeichneten hingegen | |
mit Ende des Kalten Kriegs (1989) und Auflösung des Polarisierungsmagneten | |
RAF einen Niedergang. | |
Als 1998 die erste rot-grüne Koalition im Bund regierte, war auch die lange | |
Phase des Postfaschismus in Deutschland zu Ende. Mit Helmut Kohl war der | |
letzte NS-sozialisierte Spitzenpolitiker von der Bühne verschwunden. In der | |
Folge liberalisierte und demokratisierte sich die Gesellschaft in der | |
Bundesrepublik, die Ära einer national-völkischen Staatsdoktrin war | |
vorbei. Viele frühere Autonome reflektierten dies und sehen sich seither | |
nicht mehr in grundlegendem Widerspruch zu staatlichen Politiken. Auch | |
nicht, wenn sie sich zum Beispiel autonom für Flüchtlinge engagieren. | |
Die antiimperialistisch-autonome Tradition, die den Kapitalismus als einen | |
zu bekämpfenden Weltverschwörungszusammenhang sieht, lebte allerdings | |
weiter fort. Sie ist sehr stark in den südlichen europäischen Ländern | |
verbreitet, aber auch in Deutschland war sie sichtbar, bei 1.-Mai-Krawallen | |
oder Gruppen wie „Klasse Gegen Klasse“. Der stupide Zusammenhang von | |
„Schweinesystem“ und abgefackelten Autos spricht immer wieder davon. Ebenso | |
wie die Anschläge auf die Deutsche Bahn jetzt vor dem Hamburger G20-Gipfel. | |
## Revival des Antiimperialismus | |
Mit der globalisierungskritischen Bewegung hat das | |
antiimperialistisch-autonome Spektrum um die Jahrtausendwende ein | |
erstaunliches Revival erlebt. Regierungschefs wohlhabender Nationen eignen | |
sich scheinbar bestens als Projektionsfläche für den primitiven | |
Antikapitalismus, um sie für unerfüllte Wünsche und global feststellbare | |
Widrigkeiten persönlich haftbar zu machen. In Ermangelung einer Staats- | |
oder Wirtschaftstheorie, die eine Unterscheidung von diktatorischen oder | |
demokratischen Prozessen zuließe, feierte so in Hamburg gerade das | |
Revolutionsmuseum seine Wiederauferstehung. Die Beteiligten dort wussten | |
genau, wer hier alles für den G20 in Hamburg mobilisiert. | |
An der Eskalation in Hamburg trägt deswegen die | |
antiimperialistisch-autonome Linke eine Hauptschuld. Wie im Übrigen | |
zuvor auch schon bei den Krawallen um die Rote Flora Ende 2013, wo man sich | |
mit ähnlichen Plattitüden wie jetzt herausredete. Wer, wie die angegrauten | |
Sprecher dieses Spektrums die Bundesrepublik mit Nordkorea vergleicht oder | |
als Szeneanwalt sagt, man solle nicht in seinem schönen linken | |
Schanzen-Viertel, sondern bei den Reichen in Blankenese Scheiben | |
einschlagen und Autos anzünden, dem sollte man auch im Revolutionsmuseum | |
besser die Aufsicht entziehen. | |
Besonders peinlich tönen auch andere Stimmen aus der Szene, die nun (wie | |
Seibert, Dellwo, Interventionistische Linke, Laquer, | |
„Schanzen“-Ladenbetreiber & Co) affekthaft die Schuld an den | |
Gewaltausbrüchen allein auf Olaf Scholz und die Polizei zu schieben suchen. | |
Wenn man die teilweise enthemmten Auseinandersetzungen nicht haben wollte, | |
warum hat man dies vonseiten der linken Szene vorher denn nicht deutlich | |
gemacht? Stattdessen behauptet Thomas Seibert nun in dieser Zeitung, die | |
Straßenkämpfe in Hamburg seien gar nicht so unpolitisch gewesen, „sondern | |
eine Grenzposition des Politischen“. Da ist aber vielleicht sogar die | |
Bild-Zeitung bei der Analyse schon weiter. Zumindest was das Umfeld dieser | |
„Riots“ anbetrifft, welche solche „Grenzpositionen des Politischen“ | |
gemeinhin anzuziehen pflegen. | |
## Polizeieinsatz in Hamburg ist entglitten | |
„Er heißt Kevin“, lautet die Bild-Recherche zu einem der da mit nackten | |
Oberkörper agierenden Steinewerfer, „ist 19 und wohnt bei seiner Oma.“ Die | |
Oma sagt im Bild-Video, ihr Enkel habe wohl etwas viel Alkohol an dem Abend | |
genossen, und – ein echter Grenzfall des Politischen – klassenkämpferisch | |
sei er ihr bislang nicht aufgefallen. Sie werde das mit seinem Vater | |
besprechen. | |
Doch trotz all der Kuriositäten: Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz | |
und sein Rot-Grün geführter Senat können nun nicht einfach nur mit dem | |
Finger auf linke Gewalttäter zeigen. Der Polizeieinsatz ist ihnen | |
offensichtlich entglitten. Aber vor allem hat der Senat es im Vorfeld des | |
G20-Gipfels nicht verstanden, so ins Gespräch mit den Bürgern der Stadt zu | |
kommen, dass sich der Protestrahmen hätte demokratisch abstecken lassen. | |
Der Druck auf die Rotfloristen hätte von innen kommen müssen. So kam er | |
aber nicht, wahrscheinlich einfach deswegen, weil der G20-Gipfel insgesamt | |
zu wenig Sympathien in der Stadt genoss. | |
Und so konnten die Anführer des Revolutionsmuseums einen für alle Seiten | |
akzeptablen Kompromiss über den Verlauf der Proteste torpedieren. Aber ohne | |
Partizipation und Dialog läuft in der modernen Stadtgesellschaft nichts. | |
Daher wussten zumindest die Einsatzleitungen beider Seiten, was am | |
Wochenende in Hamburg zu erwarten war. | |
## Eine eindimensionale Vorstellung von Kapitalismus | |
„Kapitalismus zerschlagen“, steht groß und eindimensional an der Roten | |
Flora. Wo „Bullen“ damit rechnen müssen, als Bullen behandelt zu werden, | |
benehmen sie sich dann auch oft so. Für Ironie oder spielerische autonome | |
Praktiken ist da kein Platz mehr. „Welcome to Hell“ – der Titel dieser von | |
der Polizei zerschlagenen Demonstration hatte durchaus noch einen | |
überspitzten satirischen Charakter. Die Identitären beider Seiten wollten | |
dies aber offensichtlich nicht mehr erkennen. | |
Ist ja vielleicht auch alles gar nicht so leicht. Wo sogar ein Kritiker der | |
SZ angesichts der Ereignisse in Hamburg sich ereiferte, dass ein Song der | |
Berliner HipHop-Formation K.I.Z. – „Hurra die Welt geht unter“ – im Rad… | |
gespielt wird. Von diesem mehrdeutigen Popsong zieht der Autor den direkten | |
Zusammenhang zu geplünderten Läden in Hamburg und schreibt: „Und dann | |
staunt man, wenn es brennt.“ Da staunt man dann wirklich, denn solch einen | |
Popsong sollte man nicht mit linken Agitprop verwechseln. Sie passen nicht | |
zusammen. | |
Der politische Kern des Hamburger Problems liegt in der Wiederauferstehung | |
einer völlig eindimensionalen Vorstellung von Kapitalismus in Verbindung | |
mit einer Geringschätzung der repräsentativen Demokratie sowie der | |
Verklärung einer eher traurigen linksradikalen Gewaltgeschichte. Auf der | |
anderen Seite müssen demokratische Parteien und staatliche Institutionen | |
lernen, besser mit Protest und Kritik umzugehen, und dafür glaubwürdige | |
partizipative Verfahren entwickeln. Und unter Umständen auch mal eine | |
getroffene Entscheidung zurücknehmen. | |
16 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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