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# taz.de -- G20 und Gewalt von allen Seiten: Wie es sich anfühlt
> Eine Woche nach dem Gipfel sind die materiellen Schäden weitgehend
> behoben. Nicht so die ideellen und emotionalen Schäden.
Bild: Bei den Auseinandersetzungen gingen nicht nur Scheiben zu Bruch, sondern …
Die letzten Bilder vor dem Aufwachen sind die, wie eine zweite Formation
Polizisten sich auf einer Straßenflucht vor eine erste stellt. Eine Wand
vor der anderen. Auch die Bilder davor handelten von Polizisten, die immer
da stehen, wo ich mich hindrehe. Als ich aufwache, ist es kurz nach drei
Uhr nachts. Ich bin für gut anderthalb Stunden wach. Dann träume ich von
Verhandlungen. Verhandlungen zwischen Gruppen. Ob die Straßen gesperrt
bleiben oder nicht. Ob die Gruppen gut sind oder böse. Olaf Scholz ist bei
all den Verhandlungen gegenwärtig. Egal, wohin ich mich wende, wohin ich
gehe, der Erste Bürgermeister ist da.
Vor einer Woche endete der G20-Gipfel. Er fand dort statt, wo ich wohne.
Man hatte die wichtigsten Staatsoberhäupter der Welt dorthin eingeladen, wo
Menschen, die nicht viel Geld haben, und jene, die mittelmäßig viel
verdienen, leben. Dorthin, wo die Stadt Wohnraum fördert und die alten
Häuser auch deshalb noch stehen, weil die Linken sie vor gut 30 Jahren
besetzten, und die Stadt, die kein großes Interesse an dem vom Geruch der
Schlachthöfe durchzogenen Viertel hatte, ihnen günstige Mieten ermöglichte.
Vielen, die Hamburg und seine politische Geschichte kennen, war klar, dass
die Idee, den Gipfel hier abzuhalten, eine höchst dumme ist. Dass sie einen
befriedeten Konflikt neu entfacht. Es gehört zur Gegenwart und zum
Selbstverständnis Hamburgs, dass es Klaus von Dohnanyi 1987 gelang, den
Konflikt um die besetzten Häuser der Hafenstraße zu befrieden. Und auch,
dass inmitten des Stadtlebens ein linksautonomes Zentrum steht, die Rote
Flora. Ein Zentrum, mit dem man vielleicht nicht immer glücklich ist, aber
das man aushält, weil man weiß, die Größe, die Besonderheit Hamburgs liegt
nicht in der Repression, sondern im Dialog und im Miteinander.
Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz hat gesagt, er wisse, man habe den
Hamburgern mit dem G20-Gipfel viel zugemutet. Diejenigen, deren Autos
abgefackelt oder deren Scheiben eingeschmissen wurden, deren Laden
geplündert wurde, erhalten Entschädigung.
## „Jetzt geht es wieder los“
Mein Auto wurde nicht abgefackelt, meine Scheibe nicht eingeschmissen. Was
abgefackelt wurde, ist mein Vertrauen. Eingeschmissen wurde mein Glaube
daran, dass es bei uns noch so etwas wie Fakten gibt. Sachverhalte, die
auch für Bürgermeister gelten.
Noch immer horche ich auf, wenn ein Hubschrauber am Himmel knattert. Man
stellt sich nicht vor, was es heißt, wenn vier Tage lang ein Hubschrauber
über dem Haus steht und immer ein, zwei weitere ihre Kreise ziehen. Was es
heißt, wenn das Geknatter morgens um sechs Uhr mit einem aufsteht und
nachts um drei über dem Bett hängt. Wie es sich in den Kopf frisst und dort
hämmert. Auch die Nachbarn schrecken jetzt, eine Woche später, noch auf und
denken: „Jetzt geht es wieder los“, wenn das Geräusch von
Blaulichtfahrzeugen ans Ohr rauscht.
Ich weiß jetzt, wie es sich anfühlt, wenn der Wohnort von der Staatsmacht
übernommen wird und die eigene Handlungsfreiheit nicht mehr vom Grundgesetz
garantiert wird, sondern von der Willkür übernächtigter, unter Anspannung
stehender Polizisten abhängt, die in ihrer 20-Kilo-Montur fix in der
Sommerhitze stehen.
Und ich weiß auch, wie es sich anfühlt, wenn im Internet gezeigt wird, wie
500 Meter Luftlinie entfernt Steine aus dem Boden gerissen werden, um sie
auf Menschen zu werfen. Wenn man zusieht, wie der Drogeriemarkt, in dem man
sein Klopapier holt, geplündert wird, und Barrikaden brennen. Ich weiß
jetzt, wie es sich anfühlt, wenn man auf Twitter den Post einer Bekannten
liest, die dort mit ihren Kindern wohnt und schreibt: „Sitzen im Dunkel
unserer Wohnung und haben Scheißangst!“ Und die Polizei nichts tut. Ich
weiß jetzt, wie es sich anfühlt, wenn ein paar Straßen von der eigenen
Wohnung entfernt die Anarchie ausbricht und der Staat nicht eingreift.
Diese „Scheibe“ ist bei mir eingeschmissen. An dieser Stelle ist etwas
kaputtgegangen.
## Merkel oder ich?
Die Polizei begründet den Umstand, dass sie die Bewohner des
Schanzenviertels nicht geschützt hat, mit dem Fakt, dass ihre Sicherheit
nicht gewährleistet war. Das glaube ich. Eigenartig finde ich es dennoch.
Ich hatte es bislang immer so verstanden, dass es das Kerngeschäft der
Polizei ist, dorthin zu gehen, wo Sicherheit nicht mehr garantiert ist.
Aber vielleicht habe ich auch zu viele Fernsehkrimis gesehen, da ist ja
manchmal alles etwas einfacher.
Aktuell ist die Aufregung groß, dass der Schutz der Politikerinnen und
Politiker Priorität gegenüber dem von uns Bürgern hatte. Das finde ich
weder verwunderlich noch skandalös. Habe ich je gedacht, dass, stünde ich
neben Angela Merkel und ein Angreifer käme, ein Polizist sich vor mich
werfen würde? Nein. Aber ich hätte angenommen, dass die Polizei, wenn sie
denn von einem Ende der Straße nicht reingehen kann, um die Menschen in
ihren Wohnhäusern zu schützen, auf die Idee kommt, von den Seitenstraßen
aus reinzugehen. Dass sie das nicht getan hat, lässt ein ganzes Arsenal
meiner Scheiben zu Bruch gehen.
Ich habe gesehen wie Menschen, zumeist männlich, viele so jung, dass der
Flaum an der Oberlippe kaum in borstiges Haar übergegangen ist, völlig
enthemmt alles vergessen, worum es miteinander geht. Ich weiß nicht, wie
ich ihrer Vision von einer besseren Welt folgen soll, so sie denn eine
haben. Überhaupt steht die Frage im Raum, wie man Menschen vertrauen soll,
die ihren Kampf für eine repressionsfreie Welt mit völliger Enthemmung und
Gewalt durchzusetzen versuchen.
Das aber mag etwas sein, das ich erkunden kann. Das ich intellektuell
begreifen kann, wenn ich mich über die Ziele der Autonomen informiere oder
darüber, warum der rechte und der linke Rand der Gesellschaft zum
Sammelbecken für Jugendliche geworden sind, denen alles egal ist. Die keine
Empathie empfinden und kein Verantwortungsgefühl. Die wahrscheinlich noch
nicht einmal politisch sind, die einfach nur zerstören wollen.
## Einsatzpolitische Strategie der Härte
Was ich nicht verstehen kann, was mich so verunsichert, dass ich schlecht
schlafe, ist etwas anderes. Es ist die [1][Aussage unseres Bürgermeisters
Olaf Scholz]: „Es hat keine Polizeigewalt gegeben, das ist eine
Denunziation, die ich entschieden zurückweise.“
Das Netz ist voll mit Filmen und Bildern von Übergriffen durch die Polizei
jenseits der Großeinsätze. Man kann sehen, wie sie Menschen, die einfach
nur vor Ort sind oder die friedlich demonstrieren, angreifen, schlagen,
ihnen Reizgas in die Augen sprühen. Ich weiß von Journalisten, die gezielt
angegriffen wurden. Bürgerinnen und Bürger wurden beschimpft, etwa: „Fotze,
was willst du hier?!“ Gleichzeitig wurde eine einsatzpolitische Strategie,
die dazu führte, dass ohne Anlass das „Massencornern“ am Neuen Pferdemarkt
mit großer Härte geräumt wurde. Und auch die brutale Auflösung der „Welco…
to Hell“-Demo, die mit „massivem Flaschenbewurf“ begründet wurde, bleibt
fragwürdig. Ich habe auf der Brücke gestanden, oberhalb des Punktes, an dem
Polizei und Demonstranten einander gegenüberstanden. Ich habe diesen
„massiven Flaschenwurf“ nicht gesehen. Wie keiner, der dort stand und den
ich gesprochen habe.
Juliane Ule ist praktische Ärztin im Karoviertel, dort, wo die Messehallen
liegen. Sie stellt jetzt, eine Woche nach dem Gipfel, nicht nur fest, dass
die Bewohner extrem erschöpft sind: „Manche sind auch traumatisiert.“ Ganz
normale Bürger sind in Situationen hineingeraten, die schwer verdaulich
sind. Beim Gang durchs Viertel von der Polizei mit dem Schlagstock
geschlagen zu werden, etwa. Zusehen zu müssen, wie das Haus von bewaffneten
Beamten gestürmt wird. Oder wie Demonstranten von Polizisten
zusammengeknüppelt werden und es zwei Stunden dauert, bis die Krankenwagen
kommen. Aber auch die Hubschrauber seien Auslöser des Krankheitsbildes. Die
Symptome, die die Ärztin ausmacht, sind typisch für traumatische
Erlebnisse: Schlafstörungen, Zittern, ängstliches Verhalten.
Es ist klar, dass die Tage für keinen leicht waren. Und es ist auch klar,
dass die Polizeibeamten, viele von ihnen sehr jung, über ihre Kräfte und
jedes verantwortungsvolle Maß hinaus strapaziert wurden. Die Zerstörungen,
die der Gipfel in die Stadtviertel gebracht hat, sind größtenteils bereits
behoben. Was nicht behoben ist, ist der Schaden durch einen Bürgermeister,
der den Bürgern ein zweites Mal Schutz versagt und sie alleinlässt, in dem
er auf die Kraft alternativer Fakten setzt und behauptet: „Polizeigewalt
hat es nicht gegeben.“ So löst man keine Konflikte, so schürt man sie.
21 Jul 2017
## LINKS
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## AUTOREN
Silke Burmester
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