| # taz.de -- Debatte G20-Gewalt und die Linke: Gewaltanwendung kann links sein | |
| > Diskussionen, wer links ist und wer nicht, bringen nichts. Klar ist aber: | |
| > Die Gewaltfrage gehört zur Linken – und zwar schon immer. | |
| Bild: Szene aus dem Schanzenviertel vom 7. Juli 2017 | |
| Sie kamen in die Stadt und waren wütend. Irgendwann warfen Vermummte | |
| Steine, Autoreifen brannten, Feuerwerkskörper explodierten, Polizisten | |
| wurden verletzt. Trotzdem hielt sich die öffentliche Empörung in Grenzen. | |
| Distanzierungen der SPD, der Grünen oder der Linkspartei sind nicht | |
| bekannt. Als einem der mutmaßlichen „Rädelsführer“ zwei Jahre später un… | |
| anderem wegen Landfriedensbruch, Sachbeschädigung, Widerstand gegen | |
| Vollstreckungsbeamte und Beihilfe zur Nötigung der Prozess gemacht werden | |
| sollte, erklärte die IG Metall, Gewalt sei zwar keine Lösung, das Verfahren | |
| sollte aber trotzdem eingestellt werden: „Polizei und Staatsanwalt werden | |
| in einem vereinigten Europa lernen müssen, konstruktiv und verständnisvoll | |
| mit den unterschiedlichen Protestkulturen umzugehen.“ | |
| Der für deutsche Verhältnisse gewöhnungsbedürftige Aktionismus der rund | |
| [1][170 Gewerkschafter aus Belgien, die 2012 vor der Europazentrale von | |
| Ford in Köln gegen den drohenden Verlust ihrer Arbeitsplätze | |
| protestierten], lässt sich nicht mit dem Vandalismus randalierender | |
| Hohlköpfe während des G20-Gipfels vergleichen. Das Beispiel der belgischen | |
| Malocher zeigt jedoch, dass die Gewaltfrage nicht immer ganz so leicht zu | |
| beantworten ist – selbst für jene, die sich nicht zur radikalen Linken | |
| zählen. | |
| Die Krawallinskis von der Schanze seien „bescheuert, aber nicht links“, hat | |
| SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz verkündet. Da ist was dran. Allerdings | |
| ließe sich darüber streiten, ob das nicht auch für Befürworter der Agenda | |
| 2010 oder von deutschen Kriegseinsätzen im Ausland gilt – zumal das eine | |
| wie das andere sicher weit gravierendere Verwüstungen mit sich gebracht | |
| hat. | |
| ## Apodiktische Aussage von Martin Schulz | |
| Doch Diskussionen, wer nun links ist und wer nicht, sind wenig hilfreich. | |
| Interessanter ist die apodiktische Aussage von Schulz, Linkssein und | |
| Gewaltanwendung schlössen sich gegenseitig aus. Ähnliches ist dieser Tage | |
| auch aus den Reihen der Grünen und der Linkspartei zu hören. Die Behauptung | |
| ist aber falsch. Selbstverständlich kann Gewaltanwendung links sein – und | |
| zwar nicht nur in einer demokratiebedrohenden gesellschaftlichen | |
| Ausnahmesituation, für die im Grundgesetz ein Widerstandsrecht | |
| festgeschrieben ist. | |
| Als 2016 in Frankreich aus Protest gegen die Arbeitsrechtsreform des | |
| damaligen Präsidenten François Hollande Barrikaden vor Raffinerien und | |
| Häfen brannten, war diese Militanz französischer Gewerkschafter | |
| selbstverständlich links. Ob sie angemessen und sinnvoll war, ist eine | |
| andere Frage, die traditionell dies- und jenseits des Rheins | |
| unterschiedlich beantwortet wird. | |
| Die Gewaltfrage gehört von jeher zur Linken – auch in Deutschland. Selbst | |
| in der Sozialdemokratie über sie einst leidenschaftlich disputiert. Etwa in | |
| der legendären „Revisionismusdebatte“, in der Eduard Bernstein, Karl | |
| Kautsky und Rosa Luxemburg Ende des 19. Jahrhunderts darüber stritten, auf | |
| welchem Weg die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu | |
| erreichen ist. | |
| Angesichts des Wegs des Kaiserreichs in den Ersten Weltkrieg dürfte es wohl | |
| eher als historisches Unglück gesehen werden, dass sich Luxemburg mit ihrer | |
| revolutionären Position nicht durchgesetzt hat. Gleiches gilt für das | |
| Agieren der SPD-Parteiführung am Ende der Weimarer Republik, die nicht dazu | |
| aufrief, mit der Waffe in der Hand die Demokratie gegen den Faschismus zu | |
| verteidigen. | |
| Mit den Verhältnissen in der Bundesrepublik hat das alles allerdings nichts | |
| zu tun. Es ist reichlich absurd, in einer Demokratie über revolutionäre | |
| Gewalt zu schwadronieren. Auch von einer Situation, die gewaltförmigen | |
| Widerstand im Sinne des Grundgesetzes rechtfertigen würde, ist dieses Land | |
| weit entfernt. Doch das bedeutet keineswegs, dass Diskussionen über | |
| Protestformen keine Berechtigung mehr hätten. | |
| Die Einhaltung der Straßenverkehrsordnung ist nicht zwingend, wenn es darum | |
| geht, Unbehagen über Missstände zu artikulieren. Mag so mancher Politiker, | |
| Journalist oder Staatsanwalt eine Sitzblockade immer noch für Gewalt | |
| halten, bleibt sie doch ein legitimes Mittel zivilen Ungehorsams. | |
| Seit „68“ gehört die begrenzte Regelverletzung zum linken | |
| Protestrepertoire in der BRD. Wie weit sie gehen darf, war damals schon | |
| innerhalb der APO heftig umstritten. Die Formel, dass „Gewalt gegen Sachen“ | |
| zulässig sei, „Gewalt gegen Personen“ jedoch nicht, wurde in weiten Teilen | |
| der Studentenbewegung zum Common Sense. | |
| ## Herumliegende Pflastersteine | |
| Nach dem von der Springer-Presse herbeigeschriebenen Mordanschlag auf Rudi | |
| Dutschke flogen die ersten Molotowcocktails, die Bewegung wurde immer | |
| militanter. Höhe- und Wendepunkt war die „Schlacht am Tegeler Weg“ am 4. | |
| November 1968 in Westberlin, bei der mehr als tausend behelmte Studenten | |
| gemeinsam mit einer Rockergruppe die Polizei angriffen. Die Bilanz: 130 | |
| verletzte Polizisten, 22 verletzte Demonstranten und, ein Journalist hat | |
| sie gezählt, 2.371 herumliegende Pflastersteine. An diesem Tag sei der | |
| „Mythos der Militanz“ geboren worden, konstatiert der | |
| Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar. | |
| Der damalige SDS-Aktivist und Dutschke-Freund Christian Semler, der kräftig | |
| mitgeworfen hatte, [2][resümierte 40 Jahre später selbstkritisch], die | |
| APO-Gruppen seien einer fatalen Selbsttäuschung aufgesessen und hätten sich | |
| in ein „Gewaltdilemma“ manövriert. Die „Schlacht am Tegeler Weg“ habe … | |
| „prekären Unterscheidung von Gewalt gegen Personen und Gewalt gegen Sachen | |
| ihre ethische Komponente“ entzogen. Denn sie habe gezeigt, dass diese | |
| differenzierte Definition von Gewalt nicht durchzuhalten sei. Es war das | |
| Ende der antiautoritären Bewegung. | |
| Die Fetischisierung von Gewalt innerhalb eines – wenn auch nur kleinen – | |
| Teils der Linken war damit jedoch keineswegs beendet. Ein zivilisatorischer | |
| Gewinn ist das allerdings nicht. Der Militanzkult hat die Republik nicht zu | |
| einer besseren, gerechteren gemacht, sondern soziale Bewegungen geschwächt. | |
| Darüber zu diskutieren ist nicht erst seit Hamburg notwendig – jenseits | |
| irgendwelcher Distanzierungsrituale. | |
| 17 Jul 2017 | |
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| Pascal Beucker | |
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