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# taz.de -- Debatte Gewalt beim Anti-G20-Protest: Lasst euch nicht weglächeln!
> Gewalt spielt den Herrschenden in die Karten. Die außerparlamentarische
> Linke sollte lieber auf zivilen Ungehorsam setzen.
Bild: Gefährlich für Herrschende: ziviler Ungehorsam mit Mehrheitsfähigkeit
Die Gewalt von Hamburg wird in wenigen Tagen im Sommerloch verschwinden.
Dabei ist eines eindeutig: Auch ein umsichtigerer und strategisch klügerer
Polizeieinsatz hätte die Gewalt nicht verhindern können – die
Gewaltausbrüche waren von Politik/Polizei und Gewaltbereiten gewollt, wie
das bisher vorliegende Material zeigt. Aber merkwürdig an der bisherigen
Debatte ist schon, dass die Veranstalter des Protests diese beschweigen, in
Dreiviertel/Einzehntel-Distanzierungen oder in einseitigen
Schuldzuweisungen verharren.
Die Kernfrage für die außerparlamentarische Linke lautet: Gibt es in
Zukunft nur noch kreuzbrave Demos und gewaltsame Ausbrüche? Oder gibt es
doch etwas, das wir massenhaften gewaltfreien zivilen Ungehorsam nennen –
und was in Hamburg nur in Spurenelementen zu besichtigen war? Kurzum: Das
produktive Verständnis von der Toleranz unterschiedlicher Radikalitäten ist
zerbrochen.
Nach Hamburg gilt: Nicht verstecken! Fast 100.000 Menschen haben friedlich,
fantasievoll und kreativ demonstriert. Die Gewaltwolke hat diesen Protest
weitgehend verdeckt. Sie haben sich die Gewaltausbrüche nicht in die Schuhe
schieben lassen und darauf beharrt, dass der politischen
Verantwortungslosigkeit der G20 ihre scharfe Kritik gilt. Sie haben auch
weitgehend der Distanzierungsmasche der Herrschenden widerstanden und sind
einer sofortigen Distanzierung nicht gefolgt.
Als ob nicht diejenigen, die Gewalt ausgeübt haben, auch dafür selbst
verantwortlich seien und strukturelle Gewalt nicht das periodische
Kennzeichen marktkonformer Demokratien ist (siehe „Riots“ in Los Angeles,
London und den Banlieues von Paris). Die scheinbare Irrationalität der
Gewalt bekommt ihre Rationalität in der Agonie der politischen
Verantwortungslosigkeit der G20. Massive Gewaltausbrüche sind politisch.
Die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 waren schon von dem
fragilen Konsens getragen, man könnte die gewaltfreien Proteste mit den
Offensiven des zivilen Ungehorsams sowie mit provozierenden Gewaltaktionen
irgendwie gewaltfrei bündeln. In Hamburg zerbrach dieser kaum haltbare
Konsens schon im Vorbereitungsprozess. Jeder machte seine Protestform, sein
Ding, und fast alle wussten bei „Welcome to Hell“: Da würde es knallen.
Aber die Frage muss schon gestellt werden, warum das Protestmittel des
zivilen Ungehorsams insgesamt nicht dominierte. Also als bewusster Verstoß
gegen rechtliche Normen von handelnden Staatsbürgern mit einem Akt des
zivilen Ungehorsams auf die Beseitigung einer Unrechtssituation
hinzuwirken. Und damit ein moralisches Recht auf Partizipation und
gesellschaftliche Lernprozesse zu begründen – mit der Konsequenz, dafür
auch eine Strafe zu erdulden.
Dieser zivile Ungehorsam hat in Deutschland eine erfolgreiche Tradition.
Die Atomkraftwerke in Wyhl und Wackersdorf wurden mit zivilem Ungehorsam
und mit Gewaltlosigkeit verhindert, der Atomausstieg durchgesetzt und
Gorleben bis heute versenkt. Die Bürgerrechtsbewegung in der DDR hat mit
mutigem zivilen Ungehorsam und massenhaftem Protest den Boden für die
friedliche Revolution von 1989 bereitet. Die Frauenbewegung ist ohne
Tomatenwürfe, Besetzungen für Frauenhäuser und zivilen Ungehorsam zu
Paragraf 218 überhaupt nicht denkbar. Natürlich stehen dem auch Niederlagen
entgegen (Hartz-IV-Proteste, „Blockupy“, Stuttgart 21).
## Unausgetragenes Selbstverständnisproblem
Aber zur Wahrheit gehört auch, dass die Bereitschaft zum zivilen Ungehorsam
dramatisch abgenommen hat. Man setzt auf Großdemonstrationen à la TTIP oder
Hamburg, auf schöne Bilder des Protests – aber an Aktionen des zivilen
Ungehorsams will man sich nur zögerlich beteiligen. Auch die
verdienstvollen Organisationen des außerparlamentarischen Protests –
Campact, BUND, Attac, Nabu, Foodwatch, Greenpeace, Deutsche Umwelthilfe,
Verbraucherverbände und viele mehr – haben ein zumeist unausgetragenes
Selbstverständnisproblem.
Das Interesse für das Salz in der oft öden Suppe der Demokratie ist nicht
eben groß. Und wenn die junge Generation der 14 bis 29-Jährigen zwischen
neun und zehn Stunden täglich mit sämtlichen (sozialen) Medien verbringt,
gibt es da wohl kaum noch Platz und Zeit im Alltag, um überhaupt noch über
zivilen Ungehorsam nachzudenken. Das Rückgrat der sozialen Bewegungen waren
früher Studierende und Schüler, heute haben alle längerfristigen Formen des
Engagements enorme Nachwuchsprobleme.
Gleichwohl wäre in Hamburg sehr viel mehr möglich gewesen. Die negativen
Folgen des ökonomischen Terrors der Globalisierung hätten sich im Alltag
Hamburgs widerspiegeln können.
## Boykott und Besetzung
Warum nicht zum Beispiel die Showrooms der Automobilhersteller VW, Porsche,
Daimler besetzen und sich räumen oder wegtragen lassen für die Forderung,
den Abgasskandal politisch anders zu händeln als bisher? Arroganz der
Mächtigen ist inzwischen geächtet. Warum nicht die Besetzung von Zara,
Primark, H&M und Boss-Läden wegen menschenschindender
Textilbilligproduktion? Warum nicht den Verkauf von Hühnerfleisch in zwei
bis drei Supermarktketten von Anbietern wie Wiesenhof boykottieren, die
durch ihre Exporte zur Zerstörung von Märkten in afrikanischen Ländern
beitragen?
Und warum eigentlich nicht die exemplarische Schließung oder Besetzung von
Banken, um zu demonstrieren, dass die Herrschaftsinteressen der
Finanzmarktindustrie weitgehend unangetastet geblieben sind? Giftige
Finanzprodukte sind nach wie vor auf dem Markt.
Nichts ist gegen Demonstrationen zu sagen, einiges aber gegen die mangelnde
Fantasie von unterschiedlichen Radikalitäten. Massenhafter ziviler
Ungehorsam mit einer Mehrheitsfähigkeit in der Bevölkerung ist der Stoff,
vor dem die Herrschenden wirklich Angst haben. Gewalt spielt ihnen nur in
die Karten. Kreuzbrave Bürger des Protests müssen den Herrschenden wehtun –
sonst werden sie nur weggelächelt. Gewalt macht ängstlich, unmündig und
dumm. Die Perspektive für einen Ausbruch aus der Gewaltspirale könnte
vielversprechend, machbar und spaßvoll sein.
29 Jul 2017
## AUTOREN
Peter Grottian
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Schwerpunkt G20 in Hamburg
Ziviler Ungehorsam
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Gewalt
Protestkultur
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