| # taz.de -- G20-Proteste – ein Jahr danach: „Social Media trägt zur Eskala… | |
| > Keine Seite würde den G20-Gipfel so nochmal machen. Der Protestforscher | |
| > Peter Ullrich über die Eskalation beim Polizeieinsatz, der Fahndung und | |
| > Mediennutzung. | |
| Bild: Protestforscher Peter Ullrich: „Der Hamburger Ansatz ist tendenziell es… | |
| Herr Ullrich, wenn morgen der nächste G20-Gipfel in Hamburg anstünde – was | |
| würden die Autonomen heute anders machen als vor einem Jahr? | |
| Der nächste Gipfel wäre nicht mehr in Hamburg. Alle Beteiligten mussten | |
| erkennen, dass das so nicht funktioniert – auch diejenigen, die vorher | |
| wider besseren Wissens behauptet haben, dass alles ganz problemlos | |
| vonstattengehen würde. | |
| Anders formuliert: Was hat die radikale Linke aus Hamburg gelernt? | |
| Manche Lerneffekte waren lagerübergreifend. Auf jeder Seite findet man | |
| Leute, die kritisch reflektieren und diejenigen, die den Gipfel als Erfolg | |
| begreifen. Die linksradikale Szene ist hochgradig uneins über Hamburg. | |
| Manche bejubeln insbesondere den Riot als Moment der Hoffnung, dass ein | |
| Umsturz möglich ist. Andere sehen G20 als Niederlage, die linke Versuche | |
| zunichte gemacht haben, sich gesellschaftlich zu verbreitern. Jetzt führt | |
| die Linke vor allem Aufarbeitungs- und Abwehrkämpfe. | |
| Sie sagen, jede Seite reflektiert kritisch – aber die Aufarbeitung | |
| innerhalb der Polizei fehlt doch weitgehend. | |
| Innerhalb der Hamburger Polizei gibt es öffentlich wahrnehmbar bestenfalls | |
| ein Zugestehen dessen, was nicht zu leugnen ist. Aber anderswo hat der | |
| Einsatz auch in Polizeibehörden Kritik erfahren. | |
| Von wem kommt diese Kritik? | |
| DozentInnen sagen, das sei nicht das an den Polizeihochschulen vermittelte | |
| Einsatzkonzept auf der Höhe der Zeit. KommunikationsbeamtInnen haben sich | |
| beschwert, dass sie nie in Konfliktsituationen eingesetzt wurden. Die | |
| Kritik kommt aber nicht aus den Bereitschaftspolizeien, eher von | |
| polizeiinternen KritikerInnen an den Rändern der Behörde. | |
| Vor einem Jahr hatte Hamburgs Innensenator Andy Grote ein „Schaufenster | |
| moderner Polizeiarbeit“ angekündigt. Was wir gesehen haben, war ein | |
| hochmilitarisierter Sicherheitsapparat, der an eine Armee im Inneren | |
| erinnert hat. War Hamburg ein Paradigmenwechsel polizeilicher Praxis? | |
| Hamburg hat Entwicklungen stark verdichtet. Vieles davon ist allerdings | |
| normaler Bestandteil sogenannten Summit Policings, also des polizeilichen | |
| Managements von Gipfeln. Dazu gehört zum Beispiel viel Technikeinsatz, | |
| Überwachung und die Einrichtung von Sonderrechtszonen. Das Ganze wurde | |
| durch die Hamburger Linie, für die Einsatzleiter Hartmut Dudde steht, | |
| verstärkt. Ihre Kennzeichen sind eine niedrige Eingreifschwelle und hoher | |
| Einsatz von Technik wie Wasserwerfern oder Panzern. Das ist ein | |
| unpragmatischer Policingstil. Er setzt auf die Drohkulisse und nimmt die | |
| damit einhergehende angespannte Stimmung in Kauf. | |
| Manche werfen den Behörden vor, sie nutzten es als Eskalationsstrategie. | |
| Der Hamburger Ansatz ist tendenziell eskalativ. Die bei G20 eingesetzten | |
| SEK-BeamtInnen erinnern mit ihrer Ausrüstung an GIs im Irakkrieg. Auch | |
| aufputschende Rituale gehören dazu: PolizistInnen haben sich mit | |
| martialischem „Uh-Uh-Uh-Uh“ in Stimmung gebracht – das sind Techniken, um | |
| sich in gruppendynamischen Exzesssituationen zu stärken. Es geht dabei um | |
| eine Simulation von Unverwundbarkeit und um Einschüchterung des Gegenüber. | |
| Aber die Vorstellung von Deeskalation durch Stärke geht nunmal nicht auf. | |
| Innensenator Grote selbst hat gesagt, es gebe grundsätzlich kein | |
| Deeskalationskonzept – das lässt tief blicken. | |
| Inwiefern hat G20 dazu beigetragen, dass die Polizei auch künftige | |
| Protestveranstaltungen so hochgerüstet begleiten wird? | |
| Was ihre Ausstattung angeht, argumentiert die Polizei nicht vorrangig mit | |
| „Linksextremismus“. Das Bedrohungsszenario ist nach den Anschlägen der | |
| letzten Jahre vor allem Terror. Wenn TerroristInnen militärische Waffen | |
| einsetzen, heißt es, müssen wir gegenhalten können. Das greift aber auf | |
| andere Bereiche über und führt auch zu einer Normalisierung des bisher | |
| Exzeptionellen. In Hamburg verschob sich der Konflikt auch durch diese | |
| militärische Präsenz schnell weg von einer Auseinandersetzung um den Gipfel | |
| hin zu einem Konflikt „Linke gegen Polizei“. Damit ging es um | |
| Grundsätzliches: um Demokratie und Versammlungsfreiheit. Was man dabei auch | |
| gesehen hat, ist, dass unser Versammlungsrecht noch einem Bild von Protest | |
| aus den 50er oder 60er Jahren nachhängt. | |
| Wie meinen Sie das? | |
| Die gesetzlichen Regelungen und die Einsatzkonzepte sind ausgerichtet auf | |
| einen Marsch mit Anführer, den man verantwortlich ansprechen kann. Aber | |
| Protest ist heute sehr viel heterogener, amorpher und oft antihierarchisch. | |
| In Hamburg beispielsweise gab es das gesamte Spektrum von Demos zu Land, zu | |
| Wasser oder als Rave, Infostände, Kunstaktionen oder Podien. Diese | |
| zeitgemäße Form von Protest bräuchte eine rechtliche Anerkennung. Es gab ja | |
| die Diskussion um die Anerkennung der Camps. Die Infrastruktur des | |
| transnationalen Gipfels wurde mit aller staatlichen Macht und deren | |
| Ressourcen ermöglicht. Aber auch der Protest im Zeitalter der | |
| Transnationalisierung braucht Infrastruktur. Das wird vom | |
| Versammlungsrecht, wenn man es autoritär auslegt, nicht anerkannt. | |
| Das ist letztlich nicht geklärt. | |
| Es wurde ein Fenster zur Debatte aufgestoßen. Nur wurde die dann von den | |
| Bildern der Ausschreitungen überlagert, obwohl die nur mit einem sehr | |
| speziellen Spektrum des Protests und AkteurInnen zusammenhängen, die auch | |
| in den Ereignisstrudel hineingezogenen wurden. Die Wahrnehmung von G20 ist | |
| nicht besonders differenziert. | |
| Was man beobachten konnte, war, dass die Polizei während und nach G20 mit | |
| Nachdruck die Öffentlichkeitsfahndung vorangetrieben hat. | |
| Es gibt wohl 100 Terabyte Videos, darunter tausende, die BürgerInnen auf | |
| dem Portal der Polizei hochgeladen haben. Menschen, die in Hamburg | |
| demonstriert haben, sind erfasst und werden potentiell ausgewertet, und | |
| zwar weitgehend automatisiert. Wenn man überlegt, wie oft polizeiliche | |
| Ermittlungsarbeit gegen politische Strukturen nicht zu konkreten | |
| Strafverfahren führt, sondern vor allem Einblicke in Szenen liefern soll, | |
| ist das eine beachtliche Dimension. Die Methoden der | |
| Öffentlichkeitsfahndung mit Bildern erinnern an Zeiten, in denen nach den | |
| RAF-Terroristen gesucht wurde – und das teilweise wegen Flaschenwürfen. | |
| Ist die Tatsache, dass da Teile der Zivilgesellschaft mithelfen, ein | |
| Zeichen für den Rechtsruck der Gesellschaft? | |
| Ich sehe da eher eine Spaltung. Zwar gab es Übergriffe der Polizei, ohne | |
| dass das zum Skandal geworden wäre. Gleichzeitig gab es aber auch | |
| zehntausende antikapitalistisch eingestellte Demonstrierende, die dann | |
| Ausdruck eines Linksrucks wären. Zudem wurden BürgerInnen schon immer um | |
| Mithilfe gebeten – nur die Verfügbarkeit von Bildern wächst, und das | |
| Internet eignet sich als Pranger. In Hamburg waren und sind durch die | |
| Ereignisse ziemlich viele Menschen ziemlich aufgebracht. Ob man dann | |
| diejenigen möglichst hart bestrafen will, die Feuer gelegt oder Flaschen | |
| geworfen haben oder den Senat, der einem das Ereignis ins Haus geholt hat, | |
| hängt auch von der politischen Orientierung ab. Momentan ist der | |
| Ermittlungseifer immens, allerdings nur in eine Richtung. | |
| Die Strafverfolgung gegenüber den BeamtInnen funktioniert offensichtlich | |
| nicht. Es gibt bisher kein einziges Urteil. | |
| Dafür gibt es strukturelle Gründe. Sobald man als PolizistIn Fehler zugibt, | |
| ist das oft strafrechtlich relevant. Das behindert die viel beschworene | |
| „Fehlerkultur“. Die Leute verstricken sich außerdem in Abhängigkeiten, we… | |
| es unmöglich ist, alles immer streng nach Vorschrift zu machen. Und der | |
| Gruppendruck ist hoch, niemand will KameradInnenschwein sein. Studien | |
| weisen darauf hin, dass auch die Nähe zwischen Polizei und | |
| Staatsanwaltschaften zu den vielen Einstellungen beiträgt. Aussagen werden | |
| oft abgesprochen. Das kann sich nur bessern, wenn es unabhängige | |
| Kommissionen mit eigenen Ermittlungskompetenzen gibt. | |
| Sieht aber nicht aus, als ob das kommen würde. | |
| In Hamburg gab es mal so einen Ansatz, der aber unter dem ehemaligen | |
| Innensenator Ronald Schill eingestampft wurde. Und in manchen | |
| Bundesländern, Rheinland-Pfalz zum Beispiel, wurden in den letzten Jahren | |
| Polizeibeauftragte eingesetzt. Das konnte aber immer nur gegen Kritik aus | |
| den Polizeigewerkschaften und mit deutlichen Einschränkungen erreicht | |
| werden. | |
| Auffällig war bei G20, dass die Polizei über Social Media schon während des | |
| Gipfels stark als Akteur präsent war. | |
| Die Polizei hat traditionell ein hohes mediales Standing, polizeiliche | |
| Meldungen stehen ganz oben in der Glaubwürdigkeitshierarchie und werden | |
| weniger gegengecheckt als andere. Aber heute muss die Polizei nicht mehr | |
| immer über die Presse gehen, sondern greift über Twitter und Facebook | |
| direkt ins Geschehen ein und gibt ihre eigene Version der Geschichte zum | |
| Besten. | |
| Die war zum Teil offenkundig falsch. Die Polizei hat beispielsweise | |
| getwittert, BeamtInnen würden „mit Molotowcocktails beworfen“. Ein | |
| Brandschutzexperte stellte später fest, es habe sich wohl eher um einen | |
| Böller gehandelt. | |
| Es gibt Extremfälle expliziter Fehlinformationen. Das kommt vor, weil die | |
| Polizei Teil des Konflikts ist, auch wenn sie die Fiktion ihrer Neutralität | |
| und strikten Rechtsdeterminiertheit aufrecht erhält. Mittlerweile nutzt sie | |
| Social Media auch dafür, Legitimität für ihr Handeln herzustellen. Genau | |
| wie in den Twitter-Diskursen von Demonstrierenden, in denen die Erregung | |
| hochkocht, sind auch PolizistInnen aufgebracht. Social Media trägt zur | |
| Eskalation bei. | |
| Die mediale Berichterstattung ist gekippt, als die Gewalt in der Schanze | |
| begann. Warum ist die Frage von Gewalt dafür so zentral? | |
| Gewalt ist der Nachrichtenfaktor schlechthin. Militante und Aufständische | |
| haben aber einen großen Nachteil im öffentlichen Diskurs: Ihr Begriff von | |
| Gewalt, der auch strukturelle Gewalt umfasst, verliert immer gegen die | |
| Darstellung konkreter physischer Gewalt. Barrikaden sind abbildbar, | |
| strukturelle Gewalt erstmal nicht. Abgesehen davon sind in der Schanze aber | |
| auch Dinge passiert, die auch mit einer Vorstellung der Bekämpfung | |
| struktureller Gewalt schwer verknüpfbar sind. Wenn Wohnhäuser angesteckt | |
| werden oder Typen mit nacktem Oberkörper vor brennenden Barrikaden | |
| posieren, sehe ich da keinen Ausblick auf eine befreite Gesellschaft. | |
| 7 Jul 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Patricia Hecht | |
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