| # taz.de -- Film über G20-Polizeigewalt: Wendepunkt Schanzenviertel | |
| > Ein linkes Filmkollektiv hat die Proteste zum G20-Gipfel aufgearbeitet. | |
| > Die Dokumentation ist eine Abrechnung mit dem Sicherheitsstaat. | |
| Bild: Ein Demonstrant gegen den G20-Gipfel stellt sich in Hamburg einem Wasserw… | |
| Der Panoramablick von der Hamburger Elbe, die funkelnde Elbphilharmonie, | |
| das moderne Messegelände, Stadtbilder wie aus einem Marketingvideo. Dagegen | |
| geschnitten: spritzende Wasserwerfer, bunter Rauch zwischen | |
| Demonstrierenden, PolizistInnen, die einen Hang hinaufstürmen oder hinter | |
| Schildern in Deckung gehen. Schon die ersten Minuten der Dokumentation | |
| „Hamburger Gitter“ versetzen die Zuschauer zurück in die Zeit des | |
| G20-Gipfels. | |
| In der Stadt sprechen viele Menschen immer noch über die Tage Anfang Juli | |
| 2017 als würden sie Kriegsgeschichten erzählen. Wann immer die BürgerInnen | |
| die Gelegenheit haben, wie jüngst bei einer AnwohnerInnenversammlung im | |
| Schanzenviertel, artikulieren sie ihre Wut: auf die Politik, die Polizei | |
| und vereinzelt auf die DemonstrantInnen. | |
| Jede neuerliche Fahndung nach vermeintlichen StraftäterInnen, jede weitere | |
| Enthüllung, etwa über verdeckte ErmittlerInnen im Schwarzen Block, auch die | |
| Verfahren gegen GipfelgegnerInnen wecken neue Aufmerksamkeit. Die | |
| Gesprächsinhalte des Regierungstreffens oder die Ergebnisse, wenn es denn | |
| welche gab, sind vergessen. Geblieben sind die Proteste von Zehntausenden – | |
| und der größte Polizeieinsatz in der bundesdeutschen Geschichte. | |
| Warum bringt das linke Filmkollektiv Leftvision gerade jetzt seine | |
| Dokumentation in die Kinos? „Wir wollten nicht, wie üblich, den Protest | |
| bloß noch mal aus einem anderen Blickwinkel nacherzählen“, sagt Marco | |
| Heinig, einer der vier FilmemacherInnen. Ausschlaggebend für das Projekt | |
| sei die massenhafte Öffentlichkeitsfahndung im Dezember gewesen. „Da wurde | |
| klar, dass die qualitative Verschiebung des polizeilichen Handelns nicht | |
| auf die Gipfeltage beschränkt geblieben ist“, sagt Heinig. | |
| ## Rechtsstaat unter Druck | |
| Die ZuschauerInnen erwartet daher kein klassischer Rückblick auf die | |
| Ereignisse zwischen Welcome-to-hell-Demo und den anarchistischen Stunden im | |
| Schanzenviertel – dafür gibt es schon die im März erschienene Doku | |
| „Festival der Demokratie“. Stattdessen beleuchten die Filmemacher G20 als | |
| Kulminationspunkt von Sicherheitsdiskurse. Es geht um den Rechtsstaat, der | |
| durch stetige Ausweitung von Befugnissen für die Sicherheitsbehörden unter | |
| Druck gerät, um Gesetzesverschärfungen, Einschränkung von | |
| Demonstrationsrecht und Pressefreiheit – und um Polizeigewalt. | |
| Der Film ist eine Entgegnung, und zwar auf die Aussage des damals | |
| verantwortlichen ersten Bürgermeisters und heutigen Finanzministers Olaf | |
| Scholz (SPD): „Polizeigewalt hat es nicht gegeben.“ Er ist eine kundige | |
| Absage an einen Sicherheitsdiskurs, dem alles untergeordnet wird, gegen | |
| immer neue, immer repressivere Polizeigesetze. Treffend lautet der | |
| Untertitel der Dokumentation: „Der G20-Gipfel als Schaufenster moderner | |
| Polizeiarbeit.“ | |
| Ganz gewiss, das war er. Ein Lehrstück dafür, wie der sich demokratisch | |
| verstehende Staat in Großlagen operiert. Die leichtfertige Einschränkung | |
| von demokratischen Grundrechten, bevor auch nur ein einziger Stein geflogen | |
| ist, die teils exzessive Polizeigewalt bis hin zum Einsatz von mit | |
| automatischen Waffen ausgerüsteten Spezialtruppen. | |
| 76 Minuten lang reihen sich die Themen dicht an dicht und wechseln sich die | |
| Aufnahmen aus den Gipfeltagen und die insgesamt 17 GesprächspartnerInnen im | |
| schnellen Tempo ab. Diese nähern sich gemeinsam der Antwort auf die zu | |
| Beginn des Films gestellten Frage: „Markiert dieser G20-Gipfel einen | |
| Wendepunkt in der deutschen Sicherheitspolitik?“ | |
| ## Hunderte Stunden Filmmaterial | |
| Dreizehn Kameraleute haben für Leftvision die Proteste begleitet und | |
| Hunderte Stunden Material zusammengetragen. Erst wenig ist davon bisher zu | |
| sehen gewesen, in kurzen Clips während und unmittelbar nach dem Gipfel. | |
| Jetzt zeigt sich: Das Team war immer da, wo es sein musste. Das ikonenhafte | |
| Bild einer jungen Frau auf einem Räumpanzer, die dann mit Pfefferspray | |
| attackiert wird, Schwerverletzte, die auf der Straße von Demosanitätern | |
| behandelt werden, die Zerschlagung der Welcome-to-hell-Demo noch vor ihrem | |
| Start. | |
| Weil das alles zu sehen ist, können die InterviewpartnerInnen sich auf ihre | |
| Analyse konzentrieren und müssen nicht mehr beschreiben, was eigentlich | |
| passierte. | |
| Für die 2009 gegründete Filmschmiede Leftvision, die seit Jahren Proteste | |
| begleitet, Geschichten von Alternativen erzählt und Interviews | |
| veröffentlicht, ist „Hamburger Gitter“ der Schritt heraus aus dem Netz, | |
| vielleicht auch aus der Nische. Mit modernster Kameratechnik, inklusive | |
| Drohnen, arbeitet das Kollektiv hoch professionell – das sieht man dem Film | |
| an. | |
| Als GesprächspartnerInnen treten auf: die scharfzüngige Anwältin Gabriele | |
| Heinecke und ihr in viereinhalbmonatiger Untersuchungshaft zum linken | |
| Szenestar avancierter Mandant Fabio V., der analytisch kluge | |
| Polizeiwissenschaftler Rafael Behr, die unermüdliche Aufklärerin der | |
| Hamburger Linksfraktion Christiane Scheider, der Bürgerrechtsjournalist der | |
| Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl – auch die taz-Journalistin Katharina | |
| Schipkowski kommt zu Wort. | |
| ## Kaum Gegenstimmen | |
| Außerdem sprechen ein von gleich zwei Razzien betroffener Aktivist der | |
| Gruppe Roter Aufbau, ein in der Gefangenensammelstelle misshandelter Mann | |
| und zwei junge Verdi-Mitglieder, die ebenso wie Fabio V. Teil der brutal | |
| zerschlagenen Demo in der Straße Rondenbarg waren. | |
| Man habe sich sehr um Gegenstimmen bemüht, sagt Regisseur Heinig, etwa von | |
| am Einsatz beteiligten PolizistInnen – das sei aber erfolglos gewesen. | |
| Bereit erklärt hat sich einzig Hamburgs Polizeisprecher Timo Zill. | |
| Ungewollt oder nicht, verstärkt er den Eindruck, dass die Tage in Hamburg | |
| eine neue Dimension darstellten – nicht wegen der Gewalt der | |
| Demonstrierenden, sondern aufgrund von Form und Ausmaß des Einsatzes. | |
| So sagt Zill zu der Nacht in der Schanze am Höhepunkt des Widerstands: | |
| „Ohne die Spezialeinsatzkräfte, sind wir schon der Meinung, hätte es Tote | |
| geben können, auf beiden Seiten.“ Was er nicht sagt: Auch mit dem Einsatz | |
| hätte es Tote geben können – die Schussfreigabe für das SEK war erteilt. | |
| Das staatliche Ringen um Kontrolle wird seit den Tagen im Juli fortgesetzt: | |
| Im Sonderausschuss der Hamburger Bürgerschaft argumentieren Polizei und | |
| Politik um die Meinungs- und Deutungshoheit, stets nach der Prämisse, nur | |
| das einzuräumen, was nicht mehr zu leugnen ist. In der extra für den Gipfel | |
| gebauten Gefangenensammelstelle arbeiten noch immer die 170 Polizisten der | |
| Sonderkommission „Schwarzer Block“ an der anhaltenden Verfolgung von | |
| Straftätern. Und in den Gerichten werden wöchentlich neue Gipfelgegner | |
| vorgeführt und abgeurteilt. | |
| Noch aber ist die komplette Kontrolle eine Dystopie. Der Film demaskiert | |
| einen Staat, der mit allen Mitteln die Kontrolle behalten wollte und sie | |
| doch – oder gerade deswegen – verlor. Davon zeugen auch die Ausblicke der | |
| AktivistInnen. Angst wurde ihnen gemacht, gebrochen sind sie nicht. „Selbst | |
| wenn sie versuchen, dich mit allen Mitteln klein zu bekommen“, sagt der | |
| misshandelte Aktivist Leo: „Einfach groß sein.“ Und lächelt dabei. | |
| 14 Jun 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Erik Peter | |
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