| # taz.de -- Debatte Vorbilder: Konfetti oder Sendepause | |
| > Gibt es überhaupt noch etwas, das über uns selbst hinausgeht? Über | |
| > unseren Umgang mit Vor- und Leitbildern. | |
| Bild: „Welcome to hell“ hieß es zwar in Hamburg. Was aber, wenn der Himmel… | |
| Hagiografien sind Lebensgeschichten von Heiligen, von Märtyrern. | |
| Geschichten, die aufgeschrieben wurden, um anderen ein Beispiel zu sein. Es | |
| ist mit ihnen ähnlich wie mit den Zehn Geboten: Sie fungieren als | |
| moralisches Leitbild, man kann, wenn man möchte, noch Adjektive hinzufügen, | |
| etwa überhoben, restriktiv, unglaubwürdig. Doch es ist abgesehen von diesen | |
| Adjektiven mit ihnen ohnehin vertrackter als mit den Geboten, denn sie sind | |
| ärgerlicherweise keine abstrakten Paragrafen oder normativen Forderungen, | |
| sondern Lebensgeschichten. | |
| Was auch immer an Hagiografien geschönt, hinzuerfunden, in religiös | |
| inspiriertem Eifer übertrieben sein mag, sie haben ein Leitbild etabliert, | |
| das uns keine göttlichen Handlungen vorführt, sondern Menschen und ihr | |
| Leben. Das ist Zumutung und Aufforderung zugleich. Konfrontiert mit so viel | |
| tugendhafter Überlegenheit, mögen sich manche denken: Bleibe ich doch | |
| lieber gleich zu Hause. | |
| Das kann man bedauern, könnte die Welt derzeit doch ein paar mehr Heilige | |
| ganz gut gebrauchen oder zumindest Menschen, die sich nicht nur an sich | |
| selbst orientieren. Viele Hamburger hätten sich vorletzte Woche allerdings | |
| gewünscht, dass noch ein paar Leute mehr zu Hause bleiben. Pflastersteine, | |
| brennende Twingos – das ist mittlerweile hinlänglich beschrieben und | |
| ausgedeutet worden, und jeder weiß nun, dass eine Zwille eigentlich | |
| Präzisionsschleuder heißt, was sie aus dem Umfeld von Bart Simpson | |
| geradewegs in die Liga der hochkarätigen Schusswaffen bringt, aber auch den | |
| biblischen Diskurs streift: David streckte Goliath bekanntlich mit einer | |
| Schleuder, nicht mit einer schnöden Zwille nieder. | |
| Viel Zuspruch hat die Gewalt in den vergangenen zehn Tagen nicht bekommen, | |
| und niemand hat bisher jemanden aus dem Schwarzen Block zum Heiligen | |
| erklären wollen. Zugegeben, die katholische Kirche lässt sich schon mit | |
| schlichten Seligsprechungen Zeit, doch die Frage ist auch weniger, ob sie | |
| in dreihundert Jahren eine Jeanne D’Arc unter den Rebellen erkennen wird | |
| (unwahrscheinlich, aber wer weiß), sondern eher: Wie erhaben, wie | |
| heldenhaft fühlten sich die Leute selbst? | |
| ## Scheinheilig und heilig | |
| Unabhängig von Blocks frage ich mich, wie sehr wir selbst eigentlich unsere | |
| eigenen Helden geworden sind. „Welcome to hell“ hieß es zwar – aber | |
| manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass der Himmel gar nicht so viel | |
| mehr als ein elysisches Facebookfoto bereithalten soll, das unglaublich | |
| viele Engel liken. | |
| Die Hamburger Ereignisse dienen hier nur als Beispiel. Allgemeiner gefragt: | |
| Wie absolut setzen wir alle uns? Gibt es überhaupt noch etwas, das über uns | |
| hinausgeht, das oberhalb der Proteste auf der einen Seite liegt – wie | |
| friedlich und kreativ diese Proteste zum Teil auch gewesen sein mögen –, | |
| und der illustren Spiele auf der anderen Seite, welche die Götter im Olymp, | |
| auch bekannt als Elbphilharmonie, aufführten? | |
| Der Unterschied zwischen scheinheilig und heilig kann eben doch nicht | |
| allein so aufgeschlüsselt werden, dass man beides kommentarlos in die Tonne | |
| haut – das eine Bio, das andere Altpapier. Zumindest muss man sich der | |
| Frage stellen, wie eine Gesellschaft langfristig funktioniert, die nicht | |
| mehr auf eine übergeordnete moralische Ebene Bezug nehmen kann. Blendet man | |
| das aus, kann man zwar weiterhin den Zynismus der Elite kritisieren, läuft | |
| aber Gefahr, selbst in eine zynische Kritik abzugleiten. | |
| Mit hinein spielt, profaner ausgedrückt, auch unser Umgang mit Vor- und | |
| Leitbildern in Zeiten der Du-schaffst-es-auch-Mentalität, die in ihrer | |
| nervtötendsten Form durch Castingshows in unsere Herzen und unseren | |
| Verstand getragen wird und dort allerhand Diskonebel versprüht. Wir | |
| verlernen, uns zu Idealen mit Distanz und auch Demut zu verhalten, sie als | |
| Richtschnur zu verstehen, nicht als eine baldige Version unserer selbst. | |
| The winner takes it all. Konfetti inklusive. Oder Sendepause. | |
| ## Verdrehung der Deutungshoheit | |
| Und nein, früher war auch nicht alles besser. Vor zwanzig Jahren, in meiner | |
| Mittelstufenzeit, als es noch keine Selfies gab und es hinnehmbar war, dass | |
| Topmodels eine andere Himmelssphäre bewohnten als wir, wollten wir zwar | |
| nicht heilig sein und auch nicht aufs Cover der Cosmopolitan, aber doch | |
| zumindest ein bisschen Helden spielen. Als besonders schick galt, wer eine | |
| Nacht in Polizeigewahrsam verbracht hatte, wobei diese Mutprobe am Ende | |
| mehr wert zu sein schien als der Protest selbst, etwa die Blockade eines | |
| Castor-Transports. | |
| Dies führte zu einer seltsamen Verdrehung der Deutungshoheit: Ein | |
| Polizeibeamter war zwar nicht ernst zu nehmen, da ohnehin, so unsere | |
| fundierte spätpubertäre Einschätzung, nicht sehr beweglich im Kopf, aber en | |
| masse waren sie dann doch Gradmesser dafür, ob der zivile Ungehorsam Funken | |
| geschlagen hatte oder nicht, ob jemand von uns den Rang des Helden | |
| beanspruchen durfte oder eben doch nur Schmieresteher gewesen war. | |
| „Ich möchte dem Regime, das mir meine Freiheit vorenthält, sagen: Ich habe | |
| keine Feinde. Weder die Polizisten, die mich überwacht, gefangen genommen | |
| und verhört haben, noch die Staatsanwälte, die mich angeklagt, noch die | |
| Richter, die mich verurteilt haben, sind meine Feinde. Ich akzeptiere eure | |
| Überwachung, euren Arrest, eure Urteile nicht, aber ich respektiere euren | |
| Beruf und eure Persönlichkeiten“, so hat es der vor wenigen Tagen in Haft | |
| verstorbene Intellektuelle Liu Xiaboo in seiner Friedensnobelpreis-Rede | |
| formuliert, eine Rede, die er nicht selbst halten konnte, da er bereits | |
| damals im Gefängnis saß. Er kritisierte auch noch aus seiner Haft heraus | |
| den autokratischen chinesischen Staat, tat dies mit einer unbeugsamen | |
| Zuversicht und dem Glauben an einer zu Demokratie und Freiheit fähigen | |
| Gesellschaft. Manchem mag das Bild des leeren Stuhls bei der Zeremonie in | |
| Erinnerung geblieben sein. | |
| Es ist vielleicht das treffendste, ja angemessenste Bild in einer Zeit, in | |
| der Heiligenlegenden nicht mehr verfangen und wir uns selbst mitunter zu | |
| groß sehen: Eine Leerstelle, mit der wir uns nicht leichtfertig | |
| identifizieren können, die uns aber doch daran erinnert, dass wir auf | |
| moralische Vorbilder nicht verzichten können. | |
| 22 Jul 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Nora Bossong | |
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