# taz.de -- Zuhör-Kiosk in Hamburg: „Ich wünsche mir noch mehr Mut“ | |
> Christoph Busch betreibt den Zuhör-Kiosk „Das Ohr“ in einer Hamburger | |
> U-Bahn-Station. Er sammelt Geschichten oder schweigt gemeinsam. | |
Bild: Kommt vor lauter Geschichten kaum zum Aufschreiben: Christoph Busch | |
taz: Herr Busch, Sie haben in den frühen 1990er-Jahren eine Serie für die | |
taz geschrieben. Dafür haben Sie sich im Café zu fremden Menschen gesetzt | |
und gefragt: „Warum sitzen Sie hier?“ Weshalb sitzen Sie denn hier? | |
Christoph Busch: Ich wohne hier in der Ecke und habe vor zwei Jahren | |
gesehen, dass der Kiosk neu vermietet wird. Damals war ich zu spät. Im | |
vergangenen September war es wieder soweit und der Kiosk noch zu haben. Ich | |
hatte zuerst gedacht na ja, du setzt dich dann dahin und schreibst. Und | |
vielleicht hörst du da auch mal was Neues. Stoff sammeln. Ich habe auch | |
gedacht: Was willst du eigentlich da unten? Vielleicht kriegst du ja einen | |
Koller. Dann habe ich einen Mietvertrag für sechs Monate unterschrieben und | |
im Dezember renoviert. Als ich dann das erste Plakat mit dem Ohr aufgehängt | |
habe, haben die Leute gesagt: „Das ist ja toll, Sie hören zu! Das macht ja | |
heute keiner mehr!“ Im Januar habe ich angefangen und ein bisschen | |
geschrieben. Dazu komme ich heute gar nicht mehr. | |
Weil die Nachfrage so groß ist? | |
Ja, das geht Schlag auf Schlag. Zwischendurch muss ich auch mal Luft holen. | |
Zuerst habe ich noch keine Termine gemacht. Das habe ich dann ziemlich fix | |
geändert. Manche, die spontan kommen, lasse ich aber rein. Da geht es mir | |
wie dem Zahnarzt. | |
Ihr Zuhör-Kiosk stößt auf große Resonanz, sowohl bei Erzählwilligen als | |
auch in den Medien. Wie erklären Sie sich dieses Interesse? | |
Ich suche noch nach einer Theorie. Ganz einfach zu sagen, dass das Internet | |
schuld ist, ist Quatsch. Ich will jetzt auch keine halbgaren Sachen äußern. | |
In vielen Medien sehe ich oft ein Menschenbild, das von Angst bestimmt ist. | |
Angst verkauft Auflage. Es gibt die Glücksritter, die Promis und | |
Lottogewinner, die sind glücklich, aber mit denen habe ich eh nichts zu | |
tun. Vor einfachen Menschen ist oft Vorsicht geboten, die schubsen einen | |
auf die Gleise oder bringen als Vater ihre Familie um. Wenn irgendwo was | |
passiert, sagen die Nachbarn, dass derjenige doch so nett war und immer | |
gegrüßt hat. So entsteht Angst voreinander. Wenn man miteinander redet, | |
geht man eben auch das Risiko ein, dass man sich streitet und vielleicht | |
keine Lösung findet. Im Netz ist das einfacher, weil anonymer. Man kann | |
sich dort etwas erleichtern mit seiner Meinung. Das ist natürlich | |
verführerisch, das kann ich total verstehen. Aber es ist keine rein | |
menschliche Auseinandersetzung mehr. | |
Sie haben Jura studiert und wollten mal Diplomat werden. Brauchen Sie | |
diplomatische Fähigkeiten für Ihren Zuhör-Kiosk? | |
Einfühlungsvermögen ist sicher nicht schlecht. Aber ein Diplomat ist ja | |
eigentlich jemand, der gar keine Konflikte austrägt. Der ist | |
weisungsgebunden, das ist ja eine ganz andere Ebene. | |
Hat sich die Hamburger Psychotherapeutenkammer schon bei Ihnen beschwert, | |
dass Sie umsonst arbeiten? | |
Nein, noch nicht. Oft klopfen bei mir Leute an, die selber im Bereich der | |
sozialen Kommunikation arbeiten, und loben mich. Sobald ich den Eindruck | |
habe, dass hier jemand sitzt und denkt Therapie, dann sage ich sofort: Ist | |
nicht. Ich lasse gar nicht erst den Anschein aufkommen, dass ich | |
irgendwelche Qualifikationen in der Richtung habe. | |
Verweisen Sie in solchen Fällen an Dritte? | |
Viele Leute, die zu mir kommen, sind schon in der Therapie. Oder was heißt | |
viele – die, die es nötig haben. Die genießen es, dass ich kein Therapeut | |
bin, weil ich ganz normal reagiere. Ich kenne sie nicht und sie kennen mich | |
nicht und ich rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Ich mache Witze, | |
wenn ich merke, das passt jetzt gerade. Aber ich habe hier auch die Nummer | |
der psychiatrischen Ambulanz im UKE. | |
Sie haben in etlichen Berufen gearbeitet: Filme gedreht, Hörspiele | |
geschrieben, an Universitäten gelehrt und Antiquitäten verkauft. Aber Sie | |
sind auch ganz klassisch Taxi gefahren. Wie habe Sie die Zeit erlebt? | |
Das war Anfang der 1970er-Jahre, vielleicht drei Jahre lang. Es kam schon | |
bei mir das Gefühl auf, hoffentlich bleibe ich da nicht hängen. Zu der Zeit | |
konntest du aber noch richtig Geld damit verdienen. Das Taxifahren wie auch | |
der Antiquitätenladen dienten mir immer nur als finanzielles Standbein, um | |
mit Herzblut andere Sachen zu machen. Ach was, Herzblut, blödes Wort – um | |
engagiert andere Sachen zu machen, deshalb. | |
Als Taxifahrer wurde Ihnen einmal Ihr Wagen vor einem Bordell gestohlen. | |
Wie kam es dazu? | |
Ich hatte einen Fahrgast in Münster, der hat sich als Kripobeamter | |
ausgegeben. Wir sind kurz zum Polizeirevier, dort wurde er auch gegrüßt. | |
Später stellte sich raus, dass sie ihn kannten, weil er ein paar Dinger | |
gedreht hatte. Zwischendurch hat er irgendwo noch einen Schinken abgeholt. | |
Dann sind wir zum Bordell nach Dortmund gefahren und da in die Bar | |
gegangen. Dort sagte er, dass er seine Zigaretten in der Taxe liegenlassen | |
hat. Ich gab ihm meinen Schlüssel und er kam nicht wieder rein. Ich hatte | |
ihm alles geglaubt und ihm vertraut. Das war dann für mich doppelt | |
peinlich. Die Polizei hat ihn aber sofort gekriegt. Er hat mir gezeigt, wie | |
man schnell Vertrauen aufbaut. | |
Mit Erfolg –viele wollen Ihren Zuhör-Kiosk über eine Crowd-Funding-Kampagne | |
oder Ähnliches unterstützen. | |
Das Extremste war eine Frau, die mir direkt eine Kioskmonatsmiete von 300 | |
Euro in einem Briefumschlag hereingereicht hat. Es sind oft aber auch | |
kleinere Summen, die ich bekomme. Ich habe dafür inzwischen ein eigenes | |
Konto eingerichtet. Die Miete für die sechs Monate habe ich schon zusammen. | |
Crowd-Funding muss ja seriös sein und ich will kein Karma oder so einen | |
Schwachsinn im Gegenzug anbieten. Aber ich kann ein Buch schreiben. Ich | |
habe inzwischen auch einen Verlag dafür gefunden, der mir einen Vorschuss | |
gegeben hat. Ich kann also gar kein Crowd-Funding mehr machen, denn das | |
Buch ist finanziert. | |
Fehlen Ihnen noch Geschichten? | |
In meinen Kiosk muss man sich natürlich erst mal reintrauen. Ich glaube, | |
viele haben schon vor dem Wort „Geschichte“ Respekt und denken, sie hätten | |
doch keine eigene zu erzählen. Ich fürchte, viele denken, sie sind es nicht | |
wert, dass man ihnen zuhört. Da wünsche ich mir noch etwas mehr Mut. Es | |
gibt auch Leute, die reinkommen und erst einmal schweigen. Das ist okay. | |
Gemeinsam einsam? | |
Nein, einfach mit jemandem zusammen sein, ein Glas Wasser zusammen trinken. | |
Ich will nicht die große Geschichte oder das große Unglück. Wenn mir jemand | |
von seinem Alltag erzählt, ist das für mich ein Hammer und neu. Für mich | |
ist vieles auch spannend, bei dem die Leute selbst denken: So what – ich | |
mache das seit 40 Jahren. | |
Werden Sie das Buch hier im Kiosk schreiben? | |
Hier unten komme ich gar nicht mehr dazu. In Zukunft werde ich sehen, dass | |
ich nicht mehr jeden Tag hier sitze, vielleicht nur noch zwei Tage die | |
Woche. Damit ich das ganze Material mal in den Griff bekomme. Gestern Abend | |
bin ich erst wieder nach zwölf Uhr ins Bett gekommen. | |
Noch einmal zur Theorie: Der französische Soziologe Marc Augé hat | |
Transiträume wie Flughäfen und Bahnhöfe als „Nicht-Orte“ bezeichnet, weil | |
dort kein tieferer sozialer und kultureller Austausch stattfände. | |
Stattdessen gäbe es dort vor allem Einsamkeit und Ähnlichkeit. Was würden | |
Sie ihm antworten? | |
Philosophen müssen natürlich Thesen aufstellen, aber die finde ich schon | |
sehr steil. Den Begriff Einsamkeit mag ich überhaupt nicht mehr, der wird | |
gerade inflationär genutzt. Der hat ja nichts mit Ursachen zu tun. Das ist | |
für mich auch wieder Angstmacherei. Ich hatte in der U-Bahn allerdings auch | |
erst Respekt, hier hält man sich ja eigentlich nicht lange auf. Und ich | |
hatte so einen gewissen Bammel, wenn ich etwas mache, was eigentlich hier | |
nicht hingehört. Ich dachte schon, damit provoziere ich bestimmt einige | |
Leute. | |
Und haben Sie provoziert? | |
Null. Mich hat noch keiner angepöbelt. Ich dachte auch, ich müsste dauernd | |
neue Plakate drucken, weil die ständig vollgeschmiert werden. Null. Die | |
U-Bahn ist vielleicht kein gemütlicher Ort, aber Kommunikation findet jede | |
Menge statt. | |
27 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Leif Gütschow | |
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