| # taz.de -- Die Wahrheit: Schweig, o, schweig! | |
| > Die Qual der Rede kennt jeder, der im öffentlichen Raum unterwegs ist. Wo | |
| > eins festzustellen ist: Niemand hat etwas zu sagen, aber alle tun es. | |
| Bild: Gemeinsam vor dem Bildschirm schweigen | |
| Eine der grausamsten Qualen, die mit dem menschlichen Dasein verbunden | |
| sind, ist das Sprechen. Und doch wird selten über dieses Übel gesprochen, | |
| aus gutem Grund freilich, denn auch das Reden über das Reden ist eine Qual. | |
| Zumindest aufgeschrieben sei die bittere Wahrheit aber einmal: Das Sprechen | |
| behindert die sachgemäße Atmung, es beansprucht die Gesichtsmuskeln im | |
| Übermaß, es stiehlt Zeit, in denen der Mund weit sinnvollere Tätigkeiten | |
| vollziehen könnte, Schlucken etwa, Küssen oder Gähnen. | |
| Das körperliche Leid, das mit dem Sprechen verbunden ist, wird im Gespräch | |
| nur in seltensten Fällen durch geistige Genüsse ausgeglichen. Machen wir | |
| uns nichts vor: Es gibt doch im Grunde gar nichts zu sagen. Die meisten | |
| Lagen des menschlichen Daseins lassen sich mit ein bisschen | |
| Einfallsreichtum wortlos bewältigen. In der Kneipe etwa kann man ein neues | |
| Bier bestellen, indem man sein leeres Glas hochhält, und nach der Toilette | |
| fragen, indem man auf seinen offenen Hosenlatz deutet. | |
| ## Verpflichtung, zu schwatzen | |
| Unnötigerweise fühlen sich die meisten Leute dennoch verpflichtet, | |
| beständig zu schwatzen, womöglich weil Schweigen als unhöflich gilt. Dabei | |
| ist die Stille die Schönheit des Ohres. Um zu dieser Einsicht zu gelangen, | |
| muss man nur Menschen beim Reden zuhören. Da wird schmerzvoll offenbar: Die | |
| Leute haben nichts, aber auch gar nichts zu sagen! Was auch! Es geschieht | |
| doch kaum etwas in so einem Leben, das erzählenswert wäre. Nachdem man sich | |
| im Gespräch wechselseitig bestätigt hat, dass Donald Trump ganz schön doof | |
| ist und der letzte „Tatort“ aus Münster wieder herrlich schräg war, ist d… | |
| Luft doch schon raus. | |
| Völlig unverständlich ist es, dass die Menschen mit dem Telefon sogar ein | |
| Gerät erfunden haben, mit dem die Gelegenheiten zum Reden noch vervielfacht | |
| sind. Man kann jetzt nicht mehr nur von Angesicht zu Angesicht sprechen, | |
| was schon schlimm genug ist, sondern auch über Entfernungen hinweg. Das | |
| Telefon wurde zum Instrument der verbalen Selbstgeißelung. | |
| Dass es damit kein Bewenden haben konnte, war klar. Nun sind die Techniker | |
| endlich zu einer befriedigenden Lösung gelangt und haben das Smartphone | |
| erfunden – das erste Telefon, dessen Zweck darin besteht, Menschen davon | |
| abzuhalten, miteinander zu reden. Recht so! | |
| Wie grausam waren früher die Runden in der Kneipe, als man mühevoll | |
| Gespräche über Nichtigkeiten in Gang halten musste! Jeder war gezwungen so | |
| zu tun, als würde er sich für die Gedanken der anderen interessieren, man | |
| musste lächeln und nicken zu den abgestandensten Geschichten und den | |
| ermüdendsten Seelenergüssen. Es war Schwerstarbeit. Heute ist’s dank der | |
| klugen Telefone ein Leichtes, dem Gerede zu entfliehen in eine virtuelle | |
| Welt nach eigenem Geschmack. | |
| Das Smartphone verdankt seinen Erfolg dem Bildschirm, den die Techniker ihm | |
| eingepflanzt haben. Ein Kindheitstraum von Generationen wurde wahr: Endlich | |
| ein Fernseher, den man überallhin mitnehmen kann! Wo immer Langeweile | |
| droht, kann man nun abschalten, indem man anschaltet. | |
| Öfter sieht man in Lokalen das folgende idyllische Bild: Ein Paar sitzt an | |
| einem Tisch, Mann und Frau einander gegenüber. Doch die beiden unterhalten | |
| sich nicht, ja sie schauen einander nicht einmal an. Ihre Blicke sind auf | |
| die zwei Laptops gebannt, die sie auf dem Tisch vor sich aufgebaut haben. | |
| Die Geräte bilden nebeneinander eine Mauer, die den Tisch sauber in zwei | |
| Hälften teilt. So könnten auch Fremde einander gegenübersitzen, die im | |
| Internetcafé zufällig an denselben Tisch geraten sind. | |
| ## Forderung, viel zu reden | |
| Die Gesellschaft setzt Paare seit jeher mit der Forderung unter Druck, | |
| Partner müssten besonders viel miteinander reden. Dabei ist doch völlig | |
| klar, dass gerade Mann und Frau in der Ehe besonders wenig zu besprechen | |
| haben. Sie kennen einander doch schon in- und auswendig! Ihre | |
| Lebensgeschichten haben sie schon bei der zweiten Verabredung erschöpfend | |
| ausgetauscht. Die alltäglichen Verrichtungen absolvieren sie mit einem | |
| Automatismus, der nicht einmal mehr Kommandos erfordert. Was gibt’s da noch | |
| groß zu reden? Gelobt sei die moderne Technik, die das Leben auch für Paare | |
| erträglich macht, die einander eigentlich nicht mehr ertragen. Es ist eine | |
| unermessliche Erleichterung. | |
| So sitzen Mann und Frau im Café schweigend vor ihren Rechnern und lächeln | |
| selig. Aber hat ihre Freude vielleicht noch einen tieferen Grund? Wer | |
| genauer hinschaut, der entdeckt auf den Bildschirmen vielleicht das | |
| eigentliche Geheimnis ihrer stillen Zufriedenheit. Schmökert die Frau da | |
| nicht gerade auf einer Seite, die Rezepte für die Herstellung von | |
| Nervengiften präsentiert, mit denen sich überflüssige Personen nachweislos | |
| beseitigen lassen? Und fragt ihr Mann nicht gerade im Kannibalenforum | |
| Menschen ähnlichen Geschmacks nach den besten Rezepten für Frauen ab | |
| vierzig? | |
| Plötzlich schauen Mann und Frau doch einmal kurz auf und lächeln einander | |
| zu, beide in freudiger Erwartung einer schönen Zukunft. | |
| 12 Jul 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Bittner | |
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