| # taz.de -- Die Wahrheit: Alter Sack mit vollen Eimern | |
| > Beinahe überall in Deutschland findet sich das geheimnisvolle Kunstwerk | |
| > „Der weiße Fleck“. Jetzt offenbart sich der Künstler. | |
| Bild: Das Gespür von Meister Richter: Weiß ist eine der Trendfarben der Kunst… | |
| Es ist ein Anblick, der für die meisten Bewohner von Städten zum Alltag | |
| gehört: ein großer weißer Fleck aus festgetrockneter Farbe auf dem | |
| Bürgersteig, von dem sich weiße Streifen und weiße Fußstapfen mit dem | |
| Profil von Reifen und Schuhsohlen in alle Richtungen ausbreiten. Oft kann | |
| man die weißen Flecken über Monate bestaunen, denn nicht einmal | |
| Wolkenbrüche können ihnen etwas anhaben. Sie werden zu Teilen des | |
| Stadtbildes. | |
| Die meisten Menschen dürften sich das eigentümliche Phänomen bislang so | |
| erklärt haben: Irgendein Student der Philosophie erhält nach der Kündigung | |
| seiner Einraumwohnung von der Hausverwaltung die Schreckensnachricht, er | |
| sei vor dem Auszug dazu verpflichtet, die Wände seiner Bude mit Hilfe von | |
| frischer Farbe wieder in den Stand der Unschuld zu versetzen. Der bislang | |
| mit der Handwerkskunst unvertraute Philosoph macht sich daher einen Tag vor | |
| dem Termin zur Wohnungsübergabe zum ersten Mal im Leben auf den Weg zum | |
| Baumarkt. | |
| Noch leicht benebelt vom Umtrunk der vergangenen Nacht setzt er sich nach | |
| einem kargen Frühstück gegen drei Uhr nachmittags auf sein Fahrrad. Im | |
| Baumarkt kauft er einen von den großen Eimern mit zehn Litern weißer Farbe. | |
| Der Transport des Eimers am Fahrradlenker erweist sich als überraschend | |
| schwierig, doch der Philosoph meistert den Balanceakt. Aber leider nur, bis | |
| zweihundert Meter vor dem Ziel plötzlich bohrende Kopfschmerzen einsetzen, | |
| die ihm für einen fatalen Augenblick die Konzentration rauben. Und platsch! | |
| Der Philosoph trauert kurz, blickt sich dann vorsichtig nach Zeugen um und | |
| macht sich eilig davon. Es dauert nur wenige Minuten, bis in der Straße die | |
| ersten Flüche erschallen. | |
| Diese durchaus nachvollziehbare Erklärung erweist sich nun jedoch als | |
| falsch. In einem spektakulären Interview mit dem Kunstmagazin [1][Monopol] | |
| hat sich der Malerfürst Gerhard Richter, einer der prominentesten und | |
| teuersten Künstler der Gegenwart, als Urheber der weißen Flecken bekannt. | |
| Den überraschten Journalisten erläuterte er: „Ich weiß, es wirkt ein | |
| bisschen komisch, dass ich alter Sack nun noch mal einen auf Aktionskunst | |
| mache. Aber man muss wissen: Neben der figürlichen Malerei gehörte auch die | |
| Abstraktion schon immer zu meinem Werk. Neu ist bloß, dass ich meine | |
| bekannte Schmiertechnik jetzt ungefragt in den öffentlichen Raum | |
| überführe“, erläutert Richter. | |
| ## Malerfürst in Sorge | |
| „Ich gebe zu“, fährt er fort, „ich will mich auch einfach mal wieder jung | |
| fühlen. Wenn ich mich nachts mit dem Taxi durch die Städte fahren lasse, | |
| pro Schicht drei bis vier Eimer fallen lasse und es dann so richtig | |
| spritzt, spüre ich eine Erregung und eine Befriedigung, wie ich sie allein | |
| im Atelier schon lange nicht mehr erfahren habe. Ich will da gar nicht ins | |
| Detail gehen. Aber es dreht sich nicht bloß um mich selbst, sondern auch um | |
| unsere Gesellschaft, um mein Deutschland“, lässt der Malerfürst seinen | |
| Sorgen freien Lauf. | |
| „Die Schönheit, diese große Trostspenderin, sie geht uns verloren, sie wird | |
| geradezu diffamiert. Ich sehe es im hässlichen Alltag, ja ich sehe es sogar | |
| im Spiegel, die knittrige Visage da drin sieht ja auch nicht mehr aus wie | |
| von Tizian gemalt. Und die Deutschen werden auch immer dümmer, die | |
| interessieren sich nicht mehr für die Kunst, viele von denen wollen nicht | |
| einmal mehr meine Bilder kaufen. Es ist ein Niedergang der Kultur | |
| sondergleichen. Die jungen Leute gucken bloß noch auf ihr Handy oder in | |
| dieses Internet. Ich glaube, viele spritzen sich auch Haschisch, das hat es | |
| alles zu meiner Zeit in Zittau nicht gegeben. Und eben dieses kulturlos | |
| werdende Volk will ich mit meinen Flecken zur Schönheit zwingen! Nicht nur | |
| kriegt man die Dinger nicht mehr weg von der Straße, sodass keiner ihrem | |
| Anblick ausweichen kann. Die Leute werden sogar ungewollt Teil des | |
| Kunstwerks, sie tragen es mit sich und verteilen es in der Umgebung. Ich | |
| lobe mich ungern selbst, aber das ist schlichtweg genial!“ | |
| Reserviert reagierte Richter zunächst auf die Nachfrage der Journalisten, | |
| ob sein Kunstwerk auch eine politische Botschaft übermitteln solle – was | |
| mancher vermuten mag, weil Richter sich als Kritiker von Angela Merkels | |
| Flüchtlingspolitik hervorgetan hat. „Ein politischer Künstler zu sein, | |
| liegt mir ganz fern“, so Richter zunächst kategorisch. | |
| Doch schon wenige Schnäpse später ergänzt er: „Natürlich geht es auch | |
| darum, dieser politischen Korrektheit was entgegenzusetzen, diesem ganzen | |
| Willkommensquatsch. Ich hab nichts gegen Ausländer! Wenn einer Bilder von | |
| mir kauft, lade ich den auch mal zum Essen ein, egal ob Neger oder Däne. | |
| Aber was wollen diese ganzen Flüchtlinge hier? Ich meine, ich bin auch mal | |
| geflohen, aus der quasifaschistischen DDR rüber in den Westen, wo ich dann | |
| reich und berühmt werden durfte, obwohl ich eigentlich nur ein mittelloser | |
| Zoni war. Aber das ist doch was anderes! Ich gehöre hierher, das sieht man | |
| doch!“ | |
| Nach diesen Aussagen Gerhard Richters kann es kaum mehr Zweifel geben: | |
| Unsere Städte sind übersät mit Kunstwerken, die uns zugleich als Denkmale | |
| an eine bedeutende Wahrheit erinnern sollen: Unsere schöne Heimat ist ein | |
| weißer Fleck und muss es bleiben. | |
| 12 Sep 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.monopol-magazin.de/neue-bilder-von-gerhard-richter-koeln | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Bittner | |
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