| # taz.de -- Die Wahrheit: Das Lächeln der Schweine | |
| > Angeblich ist das Lächeln verschwunden. Dabei ist die Freundlichkeit | |
| > überall in der Konsumgesellschaft vorhanden – und sie täuscht. | |
| Bild: Warum nur lächelt das Borstenvieh in der Metzger-Werbung? | |
| Wer an einer Fleischerei vorbeikommt, der wundert sich über das Pappschild, | |
| das fast immer vor der Tür steht. Es zeigt ein lächelndes Schwein, das die | |
| Angebote des Tages präsentiert. Man fragt sich: Würde irgendein Schwein | |
| wirklich so lächeln, wenn es wüsste, dass es Schweinemedaillons zum | |
| Sonderpreis anbieten soll? Sind das Schwein und der Metzger denn Kollegen? | |
| Sind sie nicht eher so etwas wie natürliche Feinde? | |
| Immerhin lebt ja der eine davon, dass der andere erledigt, ausgenommen und | |
| verzehrt wird. Ist es da nicht geradezu zynisch, wenn Fleischer mit Bildern | |
| von lächelnden Schweinen werben? Andererseits: Banken werben ja auch mit | |
| Bildern von lächelnden Kunden. | |
| Wie oft hören wir prominente Gestalten des öffentlichen Lebens mit | |
| weinerlicher Stimme beklagen, das Lächeln sei aus unserem Leben | |
| verschwunden. Alle Menschen seien im Alltag nur noch mit gesenktem Blick | |
| und finsterer Miene unterwegs. Nicht die geringste Freundlichkeit bilde | |
| sich mehr im verhärmten Antlitz des Menschen ab. Keiner habe mehr ein | |
| liebes Wort für seinen Nächsten. Angesichts dieses Sittenverfalls sei es | |
| doch nur natürlich, wenn es auch mit unserer Gesellschaft bergab gehe, | |
| während in der guten alten Zeit . . . | |
| ## Gefletschte Zähne | |
| So leiern die Tiraden der Margotkäßmänner unseres Landes. Aber ist denn das | |
| Lächeln wirklich verschwunden? Werden wir nicht vielmehr allerorten | |
| unverlangt von Fremden angegrinst? Auf Plakaten und Titelseiten, im | |
| Fernsehen und im Internet – überall fletschen Leute ihre Zähne. Es ist aber | |
| nicht immer klar auszumachen, ob es sich dabei um Lächeln handelt oder um | |
| die Drohmiene von hungrigen Kannibalen. Wenn uns ein Fremder an der Haustür | |
| oder auf der Straße anlächelt, dann weckt dies keine Freude, sondern nur | |
| den Fluchtinstinkt. Denn wir wissen: Wer grundlos lächelt, der will uns | |
| irgendetwas andrehen: einen Staubsauger, einen neuen Telefonanbieter oder | |
| einen besseren Gott. Das Lächeln ist inzwischen das Erkennungszeichen des | |
| Betrügers. Wir machen uns aus dem Staub, wenn wir es auch nur in der Ferne | |
| erblicken. | |
| Zähne zeigen dürften selbst in der Werbung eigentlich nur die Hersteller | |
| von Artikeln zur Mundhygiene. Aber in der Reklame lächeln alle, als wollten | |
| sie Zahncreme verkaufen. Vorher: Eine gebeugte, graue Gestalt blickt aus | |
| unerfindlichen Gründen zutiefst traurig in die Kamera. Nachher: Ein | |
| glücklicher Kunde lächelt strahlend, denn er hält ein Produkt in seinen | |
| Händen. | |
| Die Botschaft ist so einfach, dass selbst eine Amöbe sie noch verstünde: | |
| Konsum macht glücklich. Und das Lächeln bezeugt das käufliche Glück. Am | |
| penetrantesten lächeln allerdings die Politiker. Bei ihnen handelt es sich | |
| ja auch um Menschen, die zugleich Händler und Produkt sind, um Menschen | |
| also, die sich selbst verkaufen müssen. Deswegen lächeln sie immer wie die | |
| Schweine, die ihr eigenes Fleisch anpreisen. | |
| Die Verweigerung des Lächelns ist unter diesen Umständen überhaupt kein | |
| Symptom des Verfalls, sondern ein Zeichen des Protests. Die Menschen würden | |
| gern lächeln, aber die Verhältnisse, sie sind nicht so. Wer lächelt, der | |
| zeigt nur, dass er einverstanden ist. Die mündigen Bürger wollen nicht den | |
| schauspielernden Betrügern gleichen, die sie aus der Reklame kennen. Der | |
| Mensch hat ein Recht auf schlechte Laune. Wenn man aber die Mündigkeit der | |
| Massen an der Hartnäckigkeit ihrer schlechten Laune erkennen kann, dann | |
| wird die kommende Weltrevolution zweifellos in Berlin beginnen. | |
| ## Gehackter Dialog | |
| Ein gewöhnlicher Dialog in einer Berliner Fleischerei verläuft ungefähr wie | |
| folgt: „Een halbet Pfund jemischtet Hack!“ – „Na, wie heeßt det | |
| Zauberwort?“ – „Ick zahl ooch.“ – „Na jut, aber ick sach gleich, et | |
| schmeckt heut nich besonders.“ – „Meinse, ick koof Ihr Fleisch zum essen? | |
| Dit nehm ick als Kitt für die Ritzen beim Fenster!“ – „Na, is ooch besse… | |
| Diesma sind sowieso paar Krümel Rattenjift rinjeraten.“ – „Allet klar, | |
| schön Tach noch!“ – „Du mich ooch!“ | |
| Ahnungslose Außenstehende glauben vielleicht, hier einem Fall von | |
| Unfreundlichkeit zu begegnen, gar einem Streit. In der Tat handelt es sich | |
| aber um eine typisch Berliner Verbrüderung im Geist der schlechten Laune. | |
| So wie der Käufer signalisiert, dass er nur ungern kauft, macht der | |
| Verkäufer deutlich, dass ihm am Profit eigentlich nichts gelegen ist. | |
| Gemeinsam protestieren sie so gegen die schrecklich gute Laune der | |
| Konsumgesellschaft. Das ist der Geist der keimenden Revolte: Noch müssen | |
| wir mitmachen, aber schon lächeln wir nicht mehr dabei. | |
| 20 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Bittner | |
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