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# taz.de -- Die Wahrheit: Der Döner der Verzweiflung
> Gerade hat man eine Frau kennengelernt, da tut sich im Bauch ein
> schwarzes Loch auf und der große, existenzielle Hunger gibt keine Ruhe
> mehr.
Bild: Warum nur lächelt das Borstenvieh in der Metzger-Werbung?
Es ist drei Uhr nachts, und du stehst allein auf der Straße. Nach sechs
Bieren im Stammlokal bist du weitergezogen in deinen Lieblingsklub, wo du
dir viel Wodka und diesen einen weißen Cocktail eingeflößt hast, dessen
Namen du dir nie merken kannst. Auf der Tanzfläche hast du die Frau deines
Lebens kennengelernt. Sie wollte zwar nicht sofort mit dir ins Paradies der
Liebe eilen, gab dir aber immerhin ihre Telefonnummer.
Und nun stehst du allein auf der Straße. Alles wäre vollkommen, spürtest du
nicht plötzlich ein schwarzes Loch im Bauch, einen gähnenden Abgrund, der
am liebsten die ganze Welt verschlänge. Du musst etwas essen – und zwar auf
der Stelle. Aber um diese Uhrzeit gibt es kein Sushi mehr und keine veganen
Burger. Es gibt nur noch eine Lösung: den Döner der Verzweiflung.
Du trittst in irgendeinen der identischen türkischen Spätimbisse. Und alles
ist so schlimm, wie du erwartet hast. Am Spieß dreht sich träge die
Fleischmasse. In der Luft liegt der Geruch von Bratfett und Reue. Vor dir
in der Schlange warten anständige, ökologisch bewusste Salatesser, die
schamhaft zu Boden blicken. Der Hunger macht den zartesten Menschen zur
Bestie. Erst kommt das Fressen, dann kommt der Geschmack.
Du bestellst das Unvermeidliche. Du zögerst eine Weile, dann beißt du zu.
Wer soll dich hier schon sehen? Vielleicht die Frau deines Lebens. „Ich hab
dich durchs Fenster gesehen“, sagt sie lachend. Du hältst inne. Wenn du
jetzt weiter isst, dann wirst du die Liebe deines Lebens verlieren. Aber
die Selbsterhaltung siegt über den Fortpflanzungstrieb. Der erste Biss ist
noch vorsichtig, der zweite schon pure Gier. Du vergräbst dein Gesicht im
Döner wie ein Löwe sein Maul im aufgerissenen Leib der Antilope. Du weißt,
wie viehisch und hässlich du jetzt aussiehst. Du spürst, wie dir die
Kräutersauce aus dem Mundwinkel läuft, wie du ein Stück Alufolie schluckst
– egal, du frisst weiter. Du hältst deine Augen geschlossen, weil du nicht
sehen willst, wie sich das Gesicht der Frau deines Lebens zum Ekel
verzerrt.
Doch als du einmal kurz blinzelst, siehst du überrascht, dass sie noch
immer lächelt. „Iss ruhig weiter“, sagt sie freundlich. „Ich hab mir ein…
Dürüm bestellt.“ Deine Liebe zu dieser Frau verdoppelt sich. Doch dann wird
ihr der Dürum serviert. Und die schönste Frau der Welt sperrt ihren Rachen
auf wie ein gähnendes Nilpferd, um sich eine wurstförmige Rolle in den
Schlund zu schieben, aus deren faltiger Haut Gemüsebröckchen quellen wie
Eingeweide. Du siehst der Frau deines Lebens beim Essen zu und fragst dich
plötzlich, wie du je Gefallen an dieser abscheulichen Kreatur finden
konntest.
„Du, ich muss ganz dringend los! Ich melde mich!“, rufst du, eilst davon
und winkst ein Taxi heran. Während sich in deinem Bauch schweres Unwetter
ankündigt, sinnierst du auf dem Rücksitz: Vielleicht geht die Liebe
wirklich durch den Magen, aber manchmal bleibt sie auf halbem Wege stecken
und kommt wieder hoch. Die Lust am Fleische, sie widerstreitet mitunter der
fleischlichen Lust.
20 Dec 2016
## AUTOREN
Michael Bittner
## TAGS
Liebe
Hunger
Döner
Sozialverhalten
Wutbürger
Konsumgesellschaft
Sexualität
Mittelmeer
Schwerpunkt Rassismus
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