# taz.de -- Die Wahrheit: Herr im Winkel | |
> Im Süden gibt es sie noch, die echten Eckensteher: Über eine im Rest der | |
> Welt weitgehend verschwundene Lebensform. | |
Bild: Auf den Fußballplätzen dieser Welt gibt es sie noch zuhauf, sonst nur n… | |
Das Klima im Süden, an den Ufern des Mittelmeeres, das eher die Muße als | |
die Arbeit begünstigt, bietet einer Spezies ideale Lebensbedingungen, die | |
in Mitteleuropa ausgestorben ist, ja ausgerottet wurde, nämlich dem | |
Eckensteher. Der oberflächliche Betrachter hält den Eckensteher meist für | |
einen Drogenhändler oder einen Taschendieb. | |
Es mag auch sein, dass manche Verbrecher sich wirklich als Eckensteher | |
tarnen. Der echte Eckensteher hat mit ihnen aber nichts zu tun. Ihm bleibt | |
gar keine Zeit für Übeltaten, genauso wenig wie für irgendeine andere | |
Beschäftigung. Er hat nämlich schon mehr als genug mit seiner eigentlichen | |
Aufgabe zu tun: an der Ecke zu stehen. | |
Die Ecke, seine Ecke, ist ihm Arbeitsplatz. Die Eckensteherei ist ein | |
ehrlicher, dabei rein männlicher Beruf, der über Generationen hinweg von | |
den Vätern auf die Söhne vererbt wird. Das aufregendste Ereignis im Leben | |
eines Jungen aus solcher Familie ist der Moment, da er von den Eltern zum | |
ersten Mal an einer fremden Ecke allein stehen gelassen wird. | |
Der Eckensteher weiß, dass ihm seine Ecke nicht vom Zufall, sondern von | |
Gott zugewiesen wurde. Er betreut seine Ecke gewissenhaft, kontrolliert mit | |
aufmerksamem Blick alle Passanten und regelt außerdem ehrenamtlich den | |
Verkehr. Er erteilt durch energische Gesten Vorfahrt, weist Automobilen | |
Parkplätze zu und übernimmt in Streitfällen das Amt des Friedensrichters. | |
Mit den Geschäftsleuten, die an der Ecke ihre Waren feilbieten, unterhält | |
er sich ebenso wie mit den Menschen, die in den Häusern an der Ecke wohnen. | |
Er spendet, wenn nötig, Trost und vermittelt ein Gefühl von Heimat. | |
## Souverän an der Ecke | |
Fremde, verdächtige Personen werden vom Eckensteher misstrauisch beäugt, | |
bei Fehlverhalten auch lautstark zur Ordnung gerufen. An seiner Ecke ist | |
der Eckensteher absoluter Souverän und sorgt für Sicherheit. Als Lohn | |
reicht ihm ein wenig freundliche Aufmerksamkeit, aber auch Kleingeld | |
verschmäht er gegebenenfalls nicht. | |
Da der Eckensteher alle Nachbarn mindestens zweimal am Tag sieht, nämlich | |
auf dem Weg zur Arbeit und auf dem Heimweg, kann er ständig | |
Wiedersehensfeste feiern. Gelegentlich wird so ein freudiges Ereignis auch | |
in der Bar an der Ecke begossen. Besonders den weiblichen Fußgängerinnen | |
schenkt der Eckensteher größte Aufmerksamkeit, selbst wenn diese von den | |
Frauen nicht mit ebenso großer Begeisterung erwidert wird. | |
Der Eckensteher ist genügsam und glücklich auf seinem Posten in der Welt. | |
Die Ecke ist nicht nur sein Arbeitsplatz, sie ist auch sein eigentliches | |
Zuhause, selbst wenn er noch irgendwo eine ummauerte Wohnung besitzt. Wer | |
will es dem Eckensteher verdenken, dass er sich in diesem seinem Wohnzimmer | |
eher häuslich und leger kleidet? Vielleicht generell nicht übermäßig viel | |
Mühe auf seine äußere Erscheinung verschwendet? | |
## Geteilter Eckenplatz | |
Um die Ecke denken kann der Eckensteher nicht, noch viel weniger aber | |
laufen. Um den Eckensteher von seinem angestammten Platz zu vertreiben, | |
müsste man ihn schon um die Ecke bringen. Der Eckensteher selbst ist | |
außerordentlich friedliebend. In manchen kleinen Städten des Südens gibt es | |
nicht genug Ecken für die Vielzahl von Eckenstehern, dann teilen sich | |
mehrere von ihnen gütlich eine. Eine starke Abneigung empfinden Eckensteher | |
nur gegen Kreisverkehre, wo man sie deshalb auch nie sieht, stattdessen | |
aber ihre ärgsten Konkurrenten, die Zirkelhocker. | |
In Deutschland gibt es keine Eckensteher mehr, sie wurden vor Jahren alle | |
zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft umgeschult. Besteht nun in | |
Zeiten der Völkerwanderung vielleicht Hoffnung, dass einige Eckensteher aus | |
den Ländern des Südens zu uns kommen, um ihr traditionsreiches Handwerk im | |
Norden wieder heimisch zu machen? Wie schön wäre das! Vorläufig aber sind | |
unsere Ecken noch verwaist, unsere Kreuzungen öde, menschenfeindliche | |
Brachen. Deshalb begegnen sich bei uns die Straßen nicht mehr, sie | |
schneiden einander nur noch. Armes Deutschland! | |
11 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Michael Bittner | |
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