| # taz.de -- Die Wahrheit: Die Überpünktlichen | |
| > Menschen, die die Gegenwart nur schwer aushalten, erhoffen sich durch | |
| > Überpünktlichkeit Erlösung. Das ist ein schlechtgelaunter Trugschluss. | |
| Bild: Holger Stahlknecht (CDU), Innenminister des Landes Sachsen-Anhalt, hat im… | |
| Ein Zug wartet auf die Abfahrt. Um 9.52 Uhr soll er sich laut Fahrplan in | |
| Bewegung setzen. Da ertönt die Stimme eines Mannes: „Ooorrr, wie ich das | |
| hasse! Jetzt ist es schon 53!“ – Es heißt dieser Tage oft, die deutsche | |
| Identität drohe zu verschwinden. Aber wann geht es endlich damit los? Man | |
| möchte glatt selbst ungeduldig werden! | |
| Dabei ist die Pünktlichkeit eine Tugend. Andere Menschen absichtlich auf | |
| sich warten zu lassen, ist ein Laster von Leuten, die sich wichtig machen | |
| wollen. Verzeihlich aber ist die unabsichtliche Unpünktlichkeit, erst recht | |
| bei jenen, die auf erheiternde Weise die Kontrolle über ihr Leben verloren | |
| haben. Auch schönen Menschen verzeiht man Verspätungen, immerhin lohnt bei | |
| ihnen das Warten. | |
| Pünktlichkeit kann aber auch zum Laster werden, wenn man sie nicht still | |
| und selbstverständlich übt, sondern in zwanghafter Weise von anderen | |
| Menschen einfordert. Was sind das für Leute, die nicht einen Augenblick | |
| friedlich warten können? Wieso ist diese Art der Überpünktlichkeit unter | |
| Deutschen so verbreitet? | |
| Bei oberflächlicher Betrachtung scheint es, als wären es Stress oder | |
| Eilfertigkeit, die Menschen zur Überpünktlichkeit treiben. Wer genau | |
| hinsieht, erkennt aber, dass zwanghaft pünktlich gerade jene Leute sind, | |
| die gar nichts verpassen. Der Überpünktliche ist der Spießbürger, der von | |
| sich selbst angeödet ist. Er hält die Gegenwart nur schwer aus, darum denkt | |
| er beständig an die nahe Zukunft, von der er Erlösung erhofft – allerdings | |
| vergeblich, was seine schlechte Laune weiter verschärft. Für sein Unglück | |
| macht er all jene verantwortlich, die ihn zum Warten zwingen: „Dankeschön, | |
| du Arschloch! Jetzt darf ich es hier wieder eine halbe Stunde mit mir | |
| selbst aushalten!“ | |
| Eben weil das Warten bei so vielen Menschen Aggressionen auslöst, werden | |
| Wartende zu ihrer eigenen Sicherheit und zum Schutz der Bevölkerung in | |
| „Wartezimmern“ interniert, wo sie nur begrenzten Schaden anrichten können. | |
| Ist denn aber nicht unser ganzes Leben ein Warten auf den Tod? Und die Erde | |
| das geräumigste aller Wartezimmer, in dem wir uns aufhalten dürfen, bis | |
| Gott uns zu sich ruft? Es dauert allerdings ein Weilchen. Deshalb richten | |
| wir uns häuslich ein, hängen Kunstdrucke an die Wände und ziehen eine | |
| Avocadopflanze groß. Um keine Langeweile aufkommen zu lassen, lesen wir | |
| Regionalkrimis und Frauenmagazine. Wir freunden uns mit Schicksalsgenossen | |
| an, trinken zusammen und spielen Fußball. Wenn uns gar zu fad wird, | |
| pflanzen wir uns fort. So kommt’s auch, dass es im Wartezimmer nie leer | |
| wird. | |
| Bemitleidenswert erscheint uns aber jener Zausel, der ausruft: „Ooorrrr, | |
| wie ich das hasse! Jetzt bin ich schon 80! Der Tod hat Verspätung, laut | |
| biologischem Fahrplan hätte er schon vor sieben Jahren da sein müssen!“ | |
| Solche Leute halten wir für verwirrt und unglücklich. Nicht anders aber | |
| sollten wir über Menschen urteilen, die im Supermarkt rufen: „Neue Kasse! | |
| Ich warte jetzt schon zwei Minuten! Neue Kasse!“ | |
| 30 May 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Bittner | |
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