# taz.de -- Debatte Gipfelproteste: Von den Schweden lernen | |
> Nicht nur bei G20: Auch beim EU-Gipfel in Göteborg 2001 gab es Krawalle. | |
> Es folgte eine ernsthafte Aufarbeitung. Ob das auch in Hamburg möglich | |
> ist? | |
Bild: Sieht nach Hamburg aus: Göteborg 2001 | |
Nachdem sich der Rauch über Hamburg verzogen hat, wird nun gestritten, was | |
dort eigentlich passiert ist. Das medial dominierende Narrativ geht davon | |
aus, dass hoch gefährliche Autonome von einer heldenhaften Polizei | |
bekämpft worden seien. Dagegen steht das Bild, dass die Polizei mit | |
übergroßer Härte vorgegangen sei und die Krawalle erst produziert habe. | |
Aufklärung ist also nötig. Bewegungsforscher Dieter Rucht hat gefordert, | |
dass eine unabhängige Expertenkommission eingesetzt wird. Seinem Kollegen | |
Peter Ullrich schwebt ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss oder | |
eine Art Wahrheitskommission vor. Die schwedischen Erfahrungen nach den | |
Krawallen in Göteborg 2001 zeigen, dass derartige Kommissionen hilfreich | |
sein können – wenn man ihren Auftrag richtig gestaltet. | |
Am 15. Juni 2001 brachen auf der Flaniermeile Avenyn in Göteborg die | |
gefährlichsten politischen Unruhen aus, die Schweden seit dem Zweiten | |
Weltkrieg erlebt hat. | |
Die Polizei hatte versucht, eine Demonstration aufzulösen, die sich dem | |
EU-Gipfel nähern wollte, der ein paar hundert Meter entfernt tagte. 150 bis | |
200 Personen zündeten daraufhin Barrikaden an, bewarfen die Polizei mit | |
Steinen und zerstörten Schaufenster. Diese Gewalt entlud sich auch, weil | |
die Polizei einige Tage zuvor ohne erkennbaren Anlass mehrere hundert | |
friedliche Demonstranten in einer Schule eingesperrt hatte. | |
Die spektakulären Krawallbilder von der Avenyn führten zur weiteren | |
Eskalation: Später am Abend schoss die Polizei mit scharfer Munition auf | |
Demonstranten, was in Schweden noch nie vorgekommen war, und verletzte | |
einen jungen Steinewerfer schwer. Zudem wurden Hunderte Demonstranten von | |
der Polizei zusammengeschlagen, andere sexistisch und rassistisch | |
beleidigt. | |
## Was folgte waren Skepsis und Misstrauen | |
Anschließend war das gegenseitige Misstrauen abgrundtief. Politiker, Medien | |
und Polizei behaupteten beharrlich, dass schwarz gekleidete, gewaltbereite | |
Hooligans Göteborg „vergewaltigt“ hätten, wie es damals hieß. Doch dieses | |
Bild stimmte nicht mit den Erfahrungen der Augenzeugen überein, die die | |
Polizeiaktionen auf den Straßen von Göteborg miterlebt hatten. | |
Diese Kluft zwischen offizieller Version und persönlichen Erfahrungen war | |
im wahrsten Sinne des Wortes ein Trauma, das eine ernsthafte Aufarbeitung | |
verlangte. Dies gelang vor allem einer öffentlichen Untersuchungkommission, | |
die knapp zwei Monate nach den Krawallen eingesetzt wurde. Dieses | |
sogenannte Göteborgkomitee wurde vom sozialdemokratischen Ex-Premier Ingvar | |
Carlsson und vom Ex-Vorsitzenden der Konservativen Ulf Adelsohn geleitet. | |
Ansonsten bestand die Gruppe aus Polizeistrategen sowie | |
Reichtagsabgeordneten. | |
Genau deswegen war ich auch skeptisch, wie viele Linke. Eine | |
Polizei-und-Politiker-Kommission sollte Polizei und Politik untersuchen. | |
Was sollte dabei anderes herauskommen als ein geschönter Bericht? Das | |
Gegenargument lautete natürlich, dass die Ergebnisse einer Kommission, die | |
von höchst angesehenen Politikern geleitet wird, mit einer breiten | |
Akzeptanz in der Gesellschaft rechnen kann. | |
## Wenn es brennt, ist das das Symptom einer schweren Krise | |
Der offizielle Auftrag war, den Polizeieinsatz zu analysieren, um ähnliche | |
Situationen in Zukunft besser handhaben zu können. Aber die Kommission war | |
frei, sich auch mit anderen Aspekten zu befassen. Dies erwies sich als | |
entscheidend. Denn das Komitee begnügte sich nicht damit, nur Fragen zur | |
Polizeitaktik zu erörtern. Die Kommission gelangte nämlich zu ähnlichen | |
Erkenntnissen wie die Globalisierungskritiker: Die Macht zwischen Arbeit | |
und Kapital sowie zwischen Nationalstaaten und transnationalen Unternehmen | |
habe sich verschoben. | |
Daraus folgte für das Komitee, dass die Parteien allein dieses | |
demokratische Vakuum nicht mehr füllen können und dass neue Formen des | |
Dialogs zwischen Politik und kritischen Bewegungen entstehen müssen. Die | |
Botschaft war: Wenn es auf der Avenyn brennt, dann ist dies Symptom einer | |
schweren demokratischen Krise. | |
Für das Komitee war es daher selbstverständlich, nicht nur Polizisten, | |
Politiker und Journalisten zu befragen, sondern auch die | |
Globalisierungskritiker. | |
## Die verschiedenen Versionen näherten sich an | |
Der 800 Seiten starke Abschlussbericht enthielt unter anderem den | |
Vorschlag, dass auf Demonstrationen ein Maskierungsverbot herrschen solle. | |
Wichtiger war jedoch, dass eine neue Polizeitaktik nicht nur diskutiert, | |
sondern in den folgenden Jahren auch angewendet wurde: Die Polizei solle | |
sich nicht provozieren lassen, immer den Dialog suchen, auf Deeskalation | |
setzen und sich im Hintergrund halten. | |
Das Komitee kritisierte den Polizeieinsatz in Göteborg gnadenlos. Schlecht | |
ausgerüstete und unzureichend vorbereitete Einsatzkräfte hätten die Lage | |
falsch eingeschätzt. Zwar gab es anfangs durchaus Dialogbereitschaft mit | |
den Demonstranten, doch nachdem die ersten Kontaktversuche scheiterten, | |
fehlte ein Reserveplan. Stattdessen entschied sich die Polizeiführung dann | |
für ein überhastetes, destruktives und in einigen Fällen auch | |
ungesetzliches Vorgehen, das zur weiteren Eskalation beitrug. | |
Gleichzeitig widerlegte das Komitee aber auch die Verschwörungstheorien, | |
die unter den Aktivisten kursierten. Dazu gehörten unter anderem das | |
Gerücht, dass die Polizeiführung insgeheim von Anfang an auf Eskalation | |
gesetzt hätte oder dass es der amerikanische Geheimdienst gewesen sei, der | |
die schwedischen Einsatzkräfte gesteuert hätte. | |
Der Kommission gelang es damit, dass sich die verschiedenen Versionen | |
annäherten und eine offizielle Darstellung entstand, die alle Beteiligten | |
weitgehend akzeptieren konnten. Dies ließ neues Vertrauen zwischen den | |
Globalisierungskritikern und dem Staat entstehen. | |
Es bleibt abzuwarten, ob Ähnliches in Hamburg möglich ist. Aber zwei | |
Erkenntnisse lassen sich aus dem schwedischen Beispiel ableiten: Eine | |
Untersuchungskommission benötigt ein freies Mandat, und man müsste auch die | |
Hamburger Demonstranten einbeziehen. | |
Übersetzung aus dem Schwedischen: Ulrike Herrmann | |
31 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Petter Larsson | |
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